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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

ganzen Rest seiner Baarschaft sandte und dadurch in die schlimmste Verlegenheit gerieth. Bekanntlich wurde er durch den Hofrath Listn schließlich nicht allein um mehr als siebenhundert Thaler betrogen, sondern dieser machte sich obendrein später, als er ihn nicht mehr ausbeuten konnte, zum dienstwilligen Werkzeug seiner erbittertsten Gegner.

Die Hofräthin war nach allen Zeugnissen eine ungewöhnlich geistvolle, schwärmerisch exaltirte Frau, eine „schöne Seele“, die viel Sinn für Poesie besaß und manchen jungen Dichter zu blenden und zu fesseln wußte. Gemmingen, Zachariä und J. M. Miller haben sie besungen. Karl Friedrich Cramer, mit dessen Mutter sie befreundet war, und der sich ihr und ihrem Gatten vielfach gefällig erwies, beehrte sie in der damals üblichen Hainbundsprache mit dem stolzen Titel einer „Adlerin“, lernte aber später ungünstiger von ihr denken. Boie, der sie ebenfalls in einem Gedichte gefeiert und ihr die größte Hochachtung zollte, erklärte die Briefe, welche sie an Gemmingen geschrieben, vielleicht für die besten, welche in deutscher Sprache vorhanden seien, ein Urtheil, das die wenigen, sehr unorthographischen Briefe der Dame, welche mir zu Gesicht gekommen, allerdings nicht bestätigen. Dabei war sie eine enthusiastische Verehrerin Lavater’s und behauptete schon in gesunden Tagen, in Verkehr mit der Geisterwelt zu stehen. Die „Lenore“, welche im Sommer 1773 entstand, machte so starken Eindruck auf ihr Gemüth, daß sie nach Anhörung einiger Strophen in die höchste Aufregung gerieth und Nachts nicht zu schlafen vermochte. Der Umgang mit ihr spornte Bürger lebhaft zu dichterischen Arbeiten von eigenartigem Gepräge an.

„Meine freundliche engelgute Wirthin,“ schrieb er schon ein Jahr früher am 18. Mai an Boie, „ermuntert mich recht oft, ein Frühlingslied zu singen, welches eine eigene, von allen bisher gesungenen verschiedene Wendung hätte.“ Und am 2. August schreibt er demselben Freunde: „Das Frauenzimmer, welches Ihre ganze Hochachtung vereinigt, soll einst meine Genossin in den paradiesischen Lauben werden, und eine neue Art von Gesang, so ich mir zu bilden beschäftigt bin, dieser schönen Seele hinfort geweyhet seyn. Denn wo ist eine ihres Geschlechts, die einer Engelseele so ähnlich wäre?“

Das am 17. December desselben Jahres verfaßte Gedicht „An Agathe. Nach einem Gespräch über die Unsterblichkeit“ ist in der That ganz von der seraphischen Verzückung durchhaucht, in welcher die seltsame Schwärmerin Trost und Ersatz für die prosaischen Leiden des Alltagslebens suchte.

Trotz der überschwänglichen Sprache dieses Liedes und jener Briefstelle veranlaßt uns nichts zu der Annahme, daß Bürger der um viele Jahre ältern Frau, der „honetten Matrone“, wie sie Cramer in seinen Briefen zu nennen pflegt, mehr als eine enthusiastische Freundschaft und ein sympathisches Mitgefühl gewidmet hätte. Auch erkrankte sie schon im Sommer 1773 und verfiel im Herbste desselben Jahres in einen unheilbaren Irrsinn, dessen trübe Nacht selten durch lichte Intervalle unterbrochen ward. Der tägliche Anblick ihrer Leiden verdüsterte mehr und mehr Bürger’s Gemüth, und im November mußte sich endlich der Hofrath zur Rückkehr bequemen, um die Sorge für seine Gattin, welche bis dahin allein seinem jungen Freunde zur Last gefallen war, mit demselben zu theilen.

In dieser traurigen Zeit bot der häufige Umgang mit der Familie des Amtmanns Karl Leonhart zu Niedeck dem Dichter die einzige Erquickung. Die erste Bekanntschaft mit dem Vater vermittelte der Umstand, daß Bürger vor demselben auf Befehl der hannoverschen Regierung am 31. December 1772 den vorgeschriebenen Huldigungseid ablegte. Der Amtmann Leonhart hatte eine sehr zahlreiche Familie. Aus erster Ehe besaß er vier Söhne und drei Töchter, welche, mit Ausnahme eines früh verstorbenen Knaben, noch sämmtlich am Leben waren. Nach dem Tode der ersten Frau, einer geborenen Schädeler, heirathete der Vater, wie es scheint, gegen Ende der sechziger Jahre des vorigen Säculums eine gleichnamige Verwandte, vielleicht eine Schwester derselben, die Wittwe eines Dr. Strecker, welche ihm noch zwei im katholischen Glauben erzogene Stieftöchter, Franciska und Wilhelmine, zuführte. Der Amtmann Leonhart war ein braver, rechtlicher Mann, der in seinem gastlichen Hause allezeit offene Tafel hielt und durch seine joviale Gutherzigkeit bei Jedermann beliebt war. Die Einkünfte seines den Geschäften nach ziemlich unbedeutenden Amtes bestanden hauptsächlich in dem Gewinn, den er aus den weiten, fruchtbaren Ländereien seiner fiscalischen Pachtstelle zog; aber der kostspielige Haushalt und die langmüthige Nachsicht, welche er seinen unbemittelten Schuldnern erwies, bewirkten, daß er mit der Zahlung der stipulirten Pachtsumme an die Regierung oft Jahre lang im Rückstande blieb. Er liebte die Jagd, das L’hombrespiel und ein fröhliches Gespräch beim Glase Wein in anregender Gesellschaft; um das Uebrige machte er sich wenig Sorgen. Seine Knaben und Mädchen wuchsen ohne strenge Aufsicht und ernstlichen Unterricht frei und wild heran; ihren trefflichen Anlagen wurde kaum die nothdürftigste Pflege zu Theil, und sie hatten es nur der eigenen Tüchtigkeit zu danken, wenn ihre Geistes- und Herzensbildung sich dennoch über das Durchschnittsmaß der Menge erhob.

Bürger, der seit dem Sommer 1773 das Amthaus zu Niedeck häufig besuchte, fühlte sich bald heimisch in diesem geselligen Kreise. Ihn fesselte die unverdorbene Natürlichkeit, das herzliche Wesen dieser anspruchslosen Menschen, zu denen er sich mehr und mehr hingezogen fühlte, je drückender ihm der Aufenthalt im Listn’schen Hause ward. Sein intimer Verkehr mit denselben veranlaßte Boie im October des Jahres zu der Bitte, der Freund möge ihm doch den Namen eines der Mädchen zur Niedeck für die Subscriptionsliste zu Klopstock’s „Gelehrtenrepublik“ schaffen, denn „an Mädchen fehlt’s, und die zieren die Rolle“. Als der Amtmann Leonhart gegen Ende Januar 1774 seinen Geburtstag feierte, wußte Bürger dieses Familienfest sinnvoll dadurch zu erhöhen, daß er die Frau Amtmännin und sämmtliche Kinder bei Ueberreichung ihrer Geschenke kleine Gedichte hersagen ließ, die er in Gemeinschaft mit seinem Freunde J. M. Miller verfaßt hatte. Die noch erhaltenen Verse, welche er für das zehnjährige römisch-katholische Stieftöchterlein schrieb, lauteten recht artig:

„Vater, nimm dies Blühmchen an,
Weil ich sonst kein Opfer habe,
Sieh den Wehrt der kleinen Gabe
Minder, als des Herzens an.

Bester Vater, o wie lieb,
O wie lieb hab ich Dich, Vater!
Zweyter, zärtlicher Berather
Meiner Kindheit! O wie lieb! –

Mutter Gottes, sprich für mich,
Sprich für mich zu Deinem Sohne,
Daß er diesen Vater lohne!
Mutter Gottes, sprich für mich!“

Wahrscheinlich fand die Verlobung Bürger’s mit der zweitältesten der Leonhart’schen Schwestern an eben diesem Tage oder kurz nachher statt, und wenige Wochen später verließ der Dichter sein „Bedlam“ in Gelliehausen, wo er weder Ruhe noch Rast hatte, um sein Hüttchen unter den freundlichen Gesichtern auf der Niedeck zu erbauen. Dorothea (geb. 5. Octbr. 1756) – oder wie sie sich stets in ihren Briefen unterschreibt, Dorette – war ein hübsches siebzehnjähriges Mädchen, mit feinen, regelmäßigen Zügen, klein und zierlich gebaut, heiteren und doch sinnigen Gemüthes, von sanft gefälligem Charakter, etwas phlegmatisch vielleicht, aber jetzt in ihrer frischen Jugendblüthe strahlend vor Glück und Zärtlichkeit. Sie las viel und gern, besonders Romane und Schauspiele, ja, sie hatte nicht blos ein lebhaftes Interesse an poetischer Lectüre, sondern sie warf gelegentlich auch wohlgesetzte Verse auf’s Papier, wie das anmuthige Lied „Muttertändelei“, welches im Göttinger Musenalmanach für 1780 unter ihrem Namen erschien und später von Bürger in die Sammlung seiner eigenen Gedichte aufgenommen ward. Es ist ein Irrthum, zu wähnen, daß er sie niemals, oder nur ein kurzes Weilchen geliebt hätte. Es dürften wohl alle seine Briefe aus dem Jahre 1774 bezeugen, daß er mit einer schwärmerischen Gluth an ihr hing, ja, daß er seine Freunde und die ganze Welt über seine Minne vergaß. Der edle Vater Gleim hatte ihm zur Verbesserung seiner Lage die Annahme einer Gerichtshalterstelle bei dem Geheimrath von Asseburg auf Moisdorf empfohlen, zu welcher er ihn in Vorschlag gebracht. Die Bedingungen waren günstig und stellten nicht allein eine sorglose Existenz, sondern auch hinlängliche Muße zu dichterischen Arbeiten in Aussicht; nur sollte sich Bürger verpflichten, zwei Jahre lang nicht zu heirathen, da das Haus noch nicht fertig war. Dieser Aufschub dünkte seinem leidenschaftlichen Herzen unerträglich; er schlug ohne Besinnen die Stelle aus.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 810. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_810.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)