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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Epische Briefe.


Von Wilhelm Jordan.
III.


Sie erheben Einspruch, verehrter Freund, gegen meine Andeutungen über das Wesen des Epos. Ich zöge dessen Grenzen so enge, sagen Sie, daß innerhalb derselben nur etwa fünf oder sechs Dichtungen aus der Literatur aller Völker und Zeiten übrig bleiben würden. Sie fragen, ob es mein Ernst sei, das Recht auf den Titel „Epos“ einer Menge von Werken abzusprechen, denen er doch allgemein zugesprochen werde?

Ja, ich befinde mich wirklich in diesem Gegensatze zu einer lange herrschend gewesenen Meinung.

Obgleich man echte Epen besaß und mit zweien, den homerischen, recht vertraut war, hatte man dennoch die Wissenschaft, was ein Epos sei, so gut wie gänzlich verloren.

Aus dieser Unkunde sind zwei einander widersprechende Irrthümer hervorgegangen.

Der eine war das Dogma, daß das Epos einer unwiederbringlich verschwundenen Epoche angehöre und durchaus unmöglich geworden sei. Es giebt kaum einen zweiten Satz, über den sämmtliche neuere Aesthetiker und Geschichtsschreiber der Literatur so zweifellos einstimmig gewesen wären – bis zu seiner thatsächlichen Widerlegung durch meine Nibelunge und ihren Erfolg bei den Deutschen zweier Hemisphären.

Aber auch dieser Irrthum hatte seine Entschuldigung, sogar seine Wahrheit. Zu Grunde lag ihm eine Ahnung davon, daß das Epos nur entstehen könne unter dem Zusammentreffen ebenso großer wie seltener Weltbegebenheiten. Auch ist es verzeihlich, daß wenige von jenen Aesthetikern die Nähe dieser Begebenheiten gespürt, keiner von ihnen die für uns schon begonnene Erfüllung jener Bedingungen, deren Eintritt das Epos unausbleiblich macht, erkannt hatte. Wie jedes Dogma der Art, war auch dieses nur der voreilige Schluß aus einer richtigen Erfahrung. Man hielt das Epos für unmöglich in alle Zukunft, weil es viele Jahrhunderte hindurch wirklich unmöglich gewesen war.

Und dies zu behaupten hatte man ganz recht gegenüber dem zweiten, umgekehrten Irrthum: Dichtungen, wie z. B. Voltaire’s „Henriade“, Klopstock’s „Messias“, Pyrker’s „Tunisias“ und „Rudolfias“ und ähnliche, für Epen auszugeben und als solche anzuerkennen. Ohne Einsicht in das Wesen des Epos fühlte man doch, daß diese sogenannten keine rechten Epen seien.

Gleichwohl war auch für diese Dichtungen die gewählte und bewilligte Titulatur nicht durchaus nur rechtlose Anmaßung. Sie befolgten einige dem echten Epos abgesehene Regeln, wenn auch ohne Verständniß ihres Zweckes. Mindestens aber gebührt ihnen unzweifelhaft die zum Unterschiede von der lyrischen und dramatischen Poesie üblich gewordene Gattungsbezeichnung als epische Dichtungen.

Auf der Verkennung des Unterschiedes zwischen epischer Dichtung und Epos beruhen die von Ihnen, lieber Freund, erhobenen, mir nicht unerwarteten Einwendungen.

Goethe’s „Hermann und Dorothea“, Torquato Tasso’s „Befreites Jerusalem“, selbst der romantische Novellenkranz, für welchen Ariost einige Abenteuer des rasenden Roland zum Rahmen verwendet hat, sind unzweifelhaft epische Dichtungen, aber ebenso unzweifelhaft keine Epen. Eine epische Dichtung kann jedem Dichter von Talent gelingen; ein wahres Epos niemals einem Individuum als solchem. Es schaffbar zu machen vermögen nur Culturvölker, indem sie es im Laufe der Jahrhunderte thatenvollbringend erleben.

Auch dieser Satz unterliegt noch einer Beschränkung. Nur innerhalb einer Völkerfamilie begegnen wir der echten epischen Zeugungskraft. Und wiederum nicht alle Völker dieser Familie, sondern nur vier derselben kennen wir im Besitze wahrer Epen: die Indier, die Perser, die Griechen und die Germanen.

Die Römer haben keinen Anspruch, ihnen als fünftes zugezählt zu werden. Der „Aeneïs“ fehlt es nicht an großen Schönheiten. In der Feinheit des musikalischen Ohres namentlich ist Vergilius noch selten erreicht worden. Der bestechende Wohllaut, den seine Verse namentlich durch meisterhafte Vocalisation erzielen, vergütet einigermaßen die nur allzu oft widersinnige Wortstellung. Auch sieht die Gestalt seines Werkes im Großen derjenigen des Epos täuschend ähnlich. Aber der Dichter hat in ihr die „Odyssee“ rein äußerlich nachgeformt und nicht die geringste Ahnung gehabt von der Bestimmung des Epos für die Rhapsodie, von den technischen Mitteln sie zu erfüllen, von der Bedingtheit des Aufbaus durch ein inneres Kunstgesetz. Ferner genügt zwar die „Aeneïs“ insofern einer Hauptforderung des Epos, als ihr eine national bedeutsame Sage zu Grunde liegt; überall aber merkt man es, daß diese Sage keine Vorbearbeitung in der Volkspoesie, das heißt in populär gewordenen, durch mündliche Ueberlieferung mehr und mehr volksmäßig gemodelten älteren Liedern durchgemacht hatte. Deutlicher noch verräth es der akademisch gekünstelte Text, daß ihm keine schlichtende, stilklärende, das Verständniß von einmaligem Hören sichernde Mitarbeit lauschender Zeitgenossen zu gute gekommen ist.

Ein Beispiel höchst mißlungener Nachahmung dieser vergilischen Nachahmung des Epos, wenn auch in Einzelnem von poetischem Werthe und namentlich ausgezeichnet durch farbenglühende Schilderungen der Tropennatur, sind die Lusiaden des Camoëns mit ihrer barocken Vermischung der olympischen Götterwelt und des Christenhimmels.

Einen Ansatz zum Epos besitzen die nichtarischen Finnen. Ihr Kalewala ist aufgebaut aus echter, mündlich überlieferter Volkspoesie in methodisch breiter Darstellung, aber von oft hinreißender Schönheit. Den Inhalt bildet die schon halb aufgelöste Göttersage, vorgetragen in Runen, das ist Naturmythen in Räthselform. Fast dasselbe gilt vom Kalewipoëg der ihnen verwandten Esthen. Die bisher bekannt gewordenen Stücke dieser Dichtung in sehr wohllautenden Stabreimversen legen ein überraschend vortheilhaftes Zeugniß ab für die consonantische Kraft, welche die esthnische Sprache mit fast italienischer Weichheit und Fülle der Vocale verbindet. In der Umbildung der Natur- und Göttermythe zu Abenteuern der menschlichen Hauptfigur zeigt sie sogar einigen Fortschritt gegen Kalewala. Erreicht aber sind die Eigenschaften des Epos erst dann, wenn auf dem Hintergrunde solcher Göttersage ein geschlossenes Drama der Heldensage die Schicksale und die Weltanschauung eines Culturvolkes spiegelt.

Nach dieser hoffentlich ausreichenden Verständigung über Ihre Einwürfe lassen Sie uns nun den Ursprung des Epos in’s Auge fassen.

Auch für die Geschichte ist ein Fernrohr gewonnen worden, welches ihr einige zuverlässige Wahrnehmungen erlaubt in einer Zeitenferne, weit jenseits der frühesten Ueberlieferungen durch Denkmale, Sagen und Schriften. Dies Fernrohr ist die vergleichende Sprachkunde. Sie kann uns Völker zeigen, von deren einstigem Dasein wir ohne sie nichts wissen würden.

Gesetzt, alle historischen Zeugnisse, daß es einst ein römisches Volk gegeben, wären verloren gegangen: die Vergleichung des Spanischen, Italienischen, Französischen, Ladinischen und Rumänischen würde es nicht nur unzweifelhaft machen, daß diese Sprachen auseinandergehend verwandelte Dialekte einer und derselben früheren Sprache sind, sondern auch erlauben, diese gemeinsame Sprachmutter theilweise herzustellen und aus ihr sogar die Hauptthaten und Leistungen des römischen Volkes, seine weltgeschichtliche Stellung, seine Bildungsstufe zu erkennen.

Für ein der geschichtlichen Wahrnehmung wirklich schon entrückt gewesenes Volk hat eben dies die vergleichende Sprachkunde in der That geleistet. Aus der Vergleichung sämmtlicher indogermanischer Sprachen – wie dieselben vor Vollendung dieser Leistung genannt wurden – ist die einstige Existenz eines Stammvolkes aller Indogermanen, der Arier, erkannt und nachgewiesen worden, daß dieselben Götter verehrten, der Viehzucht, des Ackerbaues, vieler Gewerbe, der Baukunst, der Schifffahrt kundig, kurz, im Besitze fester Niederlassungen und einer schon hohen Cultur gewesen sind.

Wenn nämlich in allen Sprachen arischen Stammes die Wortgruppen für Himmel, Gott und Götter, die sogenannten vier Elemente, die auffallendsten Gebilde und Erscheinungen der Natur, für Haus und Theile des Hauses, die meisten gezähmten und einige der wilden Thiere, für Ackergeräthe, Werkzeuge, Schiff,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 676. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_676.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)