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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

erscheinen, um Ihre etwaigen Wünsche und Bedürfnisse entgegenzunehmen. Sobald Ihre Verhältnisse wieder glücklicher geordnet sind, werde ich mich mit der edelsten Uneigennützigkeit sogleich zurückziehen in die geweihte Stille meines Arbeitszimmers.

Genehmigen Sie die herzlichste Versicherung der aufrichtigsten Hochachtung, womit ich mich zeichne

Ihre ergebenste Käthchen Ambach.“

Als Viggi diesen Brief gelesen, beschlich ihn eine sehr gemischte Empfindung. Er war wie alle Welt gewohnt gewesen, über die Kätter zu lachen, und hegte nicht die angenehmsten Vorstellungen von ihrem Aeußern. Und doch war es ihm, als ob er schon lange nur auf einen solchen Brief gewartet habe, als ob hier eine Stimme aus einer besseren Welt sich hören ließe, als ob hier ein verständnisvolles Gemüth sich vor ihm enthülle. Indem er so darüber brütete, erschien Kätter selbst.

Sie trug ein Kleid von schwarzem Baumwollsammet, einen rothen Shawl und ein rundes graues Hütchen mit einer Feder. Diese Erscheinung bestach ihn plötzlich, und als sie nun ihm schweigend die Hand gab und ihn mit einem wehmüthig tröstenden Blick ansah, da vergaß er vollends, daß er jemals über diese Person gelacht; vielmehr fand er sich sogleich trefflich in die Weise hinein.

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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 196. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/204&oldid=- (Version vom 31.7.2018)