Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage | |
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Die Unterredung, welche zwischen diesen beiden Geistern nun erfolgte, ist nicht zu beschreiben; genug, als sie zu Ende war, fühlte Viggi sich getröstet und durchaus für Kätter eingenommen. Am Meisten hatte sie ihn gerührt, als er ihr die Geschichte mit den Briefen erzählte und den ganzen Haufen vorwies. Sie hatte kein Wort erwidert, sondern nur geseufzt und einige stille Thränen vergossen, und zwar ziemlich aufrichtig, weil sie bedachte, wie viel weiser und geschickter sie für eine solch' glückliche Stellung eingerichtet gewesen wäre; denn sie schrieb für ihr Leben gern Briefe.
Zum Schlusse stellte sie mit der Magd ein Verhör an, besichtigte die Küche, gab einige überflüssige Anweisungen und stieg endlich, das Kleid aufnehmend, mit großen Umständen und laut sprechend die geräumige Treppe hinunter, welche ihr, verglichen mit ihrer Hühnerstiege zu Hause, ausnehmend wohl gefiel. Der angehende Wittwer begleitete sie bis auf die Straße, und es fand ein gespreizter und ansehnlicher Abschied Statt.
„Berg und Thal kommen nicht zusammen, aber die Leut'!“ sagte ein Seldwyler, der eben vorbeiging und den stattlichen Auftritt besah.
Der Unglücklichste von Allen war Wilhelm, der Schulmeister. Er hatte sich halbwegs ein Herz gefaßt
Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 197. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/205&oldid=- (Version vom 31.7.2018)