Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage | |
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die tiefste Rührung hatte sie einst ergriffen, als sie auf Reisen jenes berühmte Bild Correggio's gesehen, welches das Antlitz Christi auf dem Schweißtuch der Veronika mit magischer Wirkung darstellt. In den Anblick des träumerisch starren Ausdruckes des höchsten Leidens versunken, hatte sie tief aufgeseufzt und alsbald Mitgefühl suchend ihren Mann angelächelt, der ihr zur Seite stand, und noch jetzt gehörte jener Augenblick zu ihren liebsten Erinnerungen; aber alles dies glich nicht der Gottesfurcht.
Als die Alte indessen auf einer Antwort bestand, sagte Jukundus bedächtig:
„Ich glaube, der Sache nach habe ich wohl etwas wie Gottesfurcht, indem ich Schicksal und Leben gegenüber keine Frechheit zu äußern fähig bin. Ich glaube nicht verlangen zu können, daß es überall und selbstverständlich gut gehe, sondern fürchte, daß es hie und da schlimm ablaufen könne, und hoffe, daß es sich dann doch zum Bessern wenden werde. Zugleich ist mir bei Allem, was ich auch ungesehen und von Andern ungewußt thue und denke, das Ganze der Welt gegenwärtig, das Gefühl, als ob zuletzt Alle um Alles wüßten und kein Mensch über eine wirkliche Verborgenheit seiner Gedanken und Handlungen verfügen oder seine Thorheiten und Fehler nach Belieben todt schweigen
Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 156. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/432&oldid=- (Version vom 31.7.2018)