Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage | |
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als unseren Herren und Erlöser verkündeten, an mich herantrat, sei es Tag oder Nacht gewesen.
„Ja, wenn ich zuweilen noch, ohne vom Berufe dazu veranlaßt zu sein, der von mir für so geheiligt ausgegebenen Person Christi in der Einsamkeit gedachte, so geschah es mehr mit dem hochmüthigen Sinn eines Schutzherren, der sich etwa eines armen Teufels annimmt und ihm im Vertrauen sagt: „Lieber, du machst mir viele Mühe!"
„Ich empfand endlich, daß ich ein beifallsdurstiger Wohlredner und Schwätzer geworden sei, ohne es zu merken; daß ich, wenn ich nicht den goldenen Schlüssel eines wirklichen jenseitigen Gotteswortes besaß, vom Geheimniß meines Nebenmenschen nicht mehr verstand und nicht mehr Gewalt über sein Gemüth hatte, als ein Kind, ja, daß ich wegen der Halbwahrheit und des Doppelsinns meiner Worte auch einem Kinde gegenüber in schlimmer Lage war.
„Ich fing an, mich des gedankenlosen Beifalls zu schämen, der mir entgegen getragen wurde; dazu war es mir des Handwerks wegen unmöglich, meine Gedanken für mein stilles Inneres, für den eigenen Frieden zu ordnen, weil sich das mit der lauten Gewaltsamkeit und den Anforderungen des Standes nicht vertrug, und darum wollte ich ihn verlassen und meinen fadenscheinigen Reformatorenrock an den Nagel hängen.
Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 217. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/493&oldid=- (Version vom 31.7.2018)