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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

chen, auf den Arm und ging, bis sie die verborgene Versammlung fand, setzte sich bescheiden auf ein Trümmerstück im Hintergrunde der Teufelsküche, das Kind auf dem Schoße in den Armen haltend, und lauschte aufmerksam auf jedes Wort, das gesprochen wurde. Verschiedene Prediger standen auf, welche neben der Verwaltung der Heilslehre jeder ein schlichtes Handwerk trieben und das Wort selbst auch ganz schlicht handhabten; denn noch kannten sie nicht einmal den theologischen Unterschied zwischen Peter und Paul und Niemand wußte hier so recht, wer eigentlich die Römer gewesen seien, deren Soldaten den Heiland gekreuzigt haben.

Im Anfang war die arme Wittwe vom Schatten einer Haselstaude bedeckt; doch wie die Sonne tiefer sank, überstreute sie die Wittwe und das Kind mit spielenden Lichtern und zuletzt leuchtete das Bild ganz übergüldet aus dem feurigen Grün heraus. Dadurch fiel es dem Manne in die Augen, der eben predigte. Er unterbrach sich, als er die still aufhorchende Frau sah, und hieß sie mit lauter Stimme näher kommen und in dem Kreise der Gläubigen Platz nehmen, also daß die ganze Gemeinde den Kopf wandte und die Fremde wahrnahm.

Diese rührte sich aber nicht und blieb schüchtern sitzen, bis von einer Reihe von fünf oder sechs älteren

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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 230. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/506&oldid=- (Version vom 31.7.2018)