Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage | |
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dung, welche man das Oelweib hieß, und die Jukundus Meyenthal aufsuchen wollte, um dem Unheil auf den Grund zu kommen, das er in der fröhlichen Nacht entdeckt hatte.
Als Justine das Häuschen erfragt und jetzt hergewandert kam, saß das Oelweib vor der Thüre an der Straße und scheuerte mürrisch ein Pfännchen.
Die Sage erzählt, daß zur Zeit, als Attila mit seinen Hunnen erschien, in der Nähe von Augsburg eine wegen ihrer abscheulichen Häßlichkeit verbannte Hexe wohnte, welche dem zahllosen Heere, als es über den Lech setzen wollte, ganz allein und nackt auf einem abgemagerten schmutzigen Pferde entgegen geritten sei und „Pack' Dich, Attila!" geschrieen habe, also daß Attila mit dem ganzen Heere voll Schrecken sich stracks gewendet und eine andere Richtung ein- geschlagen habe, und so die Stadt von der verstoßenen Hexe gerettet und diese mit einem guten neuen Hemde belohnt worden sei. Aber diese Hexe hier verdiente um ihr Vaterland schwerlich ein neues Hemd.
Auch Justine wäre beinahe umgekehrt und entflohen, als sie das Oelweib vor der Thüre sitzen sah mit dem großen viereckigen, gelblichen Gesicht, in welchem Neid, Rachsucht und Schadenfreude über gebrochener Eitelkeit gelagert waren, wie Zigeuner auf einer Haide um ein erloschenes Feuer.
Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 237. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/513&oldid=- (Version vom 31.7.2018)