Entwicklung geglaubt hat. In dieser vorhistorischen, sozusagen ursprünglichen Zeit glaubte man allgemein voll und ganz an den Inhalt der Sagen, denn diese waren der Ausdruck des Denkens und Gemüts des Volkes, sie stimmten also mit der menschlichen Logik jener Zeit überein. Natürlich können sie mit unseren Gesetzen der Logik nicht mehr gemessen werden, sie sind jetzt freie Kinder künstlerischer und dichterischer Phantasie. Aber bloße Erfindungen sind doch nur die wenigsten. Durch wissenschaftliche Untersuchung können sie auf ihren wahren Kern zurückgeführt werden. „Ihrem Wesen nach aber fordert besonders die mythische Sage unbedingten Glauben, der über den jeweils herrschenden Glauben, nicht nur der Kirche, hinausgeht. So verquicken sich Sage und Aberglaube, ja man möchte die Sage in vielen Fällen gerade als den durch Beispiele gestützten und erwiesenen Volksglauben bezeichnen, als einen dramatisierten Aberglauben. Umgekehrt können natürlich auch Sagen verblassen und abergläubische Vorstellungen als Rückstand verbleiben.“
Wie Sagen noch jetzt entstehen können, davon ein Beispiel aus meiner Erfahrung, von meinem Vater erzählt. Dieser fuhr in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts abends von Bielefeld durch den Teutoburger Wald nach Heidenoldendorf bei Detmold. Jenseit des Waldes, zwischen Örlinghausen und Pivitsheide, war ein tiefer Hohlweg, dessen hohe Böschungen mit alten Hecken bestanden waren. Inzwischen war es stichdunkel geworden, und in dem Hohlwege angekommen, wollte das Pferd plötzlich nicht mehr weiter, bäumte sich, schnaubte und gab alle Zeichen einer großen Angst zu erkennen. Aufmerksam geworden, gewahrte mein Vater auf dem hohen Uferrande des Hohlweges einen ungeheuren Hund mit einem einzigen, aber riesig großen Auge auf der Stirn des dicken Kopfes. Ihn gruselte selber, das Pferd wollte trotz starken Zügelns und trotz des Gebrauchs der Peitsche nicht vorbei. Was machen? Er stieg vom Wagen, nahm sich ein Herz und ging in weitem Bogen dem Untier langsam näher. Was war es? Ein alter krummer Weidenstumpf, in dessen dickem Kopfe sich ein großes Loch befand, durch das die infolge Verwesung fluoreszierende Moderschicht des Bauminnerns hindurch leuchtete. Das Gespenst war erkannt; aber nur mit Mühe konnte der
Karl Wehrhan: Die Sage. Wilhelm Heims, Leipzig 1908, Seite 27. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Sage-Karl_Wehrhan-1908.djvu/35&oldid=- (Version vom 31.7.2018)