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IX. Die mythischen Wesen der Sage.

Der alte germanisch-heidnische Mythus, die alte heidnische Götterlehre und Religion unserer Vorfahren ist zwar dem Namen nach für unser Volk verschwunden, treibt aber der Sache nach noch in üppiger Fülle neue Sprossen und grünt und blüht wie jener Sagenbaum, der nie verdorren soll. Der christliche Glaube konnte ihn nicht verdrängen, sondern gab ihm oft nur ein äußeres Gewand; die tiefer werdende Kenntnis der Natur und ihrer Gesetze, die gewaltigen Fortschritte der modernen Technik und die dadurch bedingte Hinlenkung des geistigen Lebens auf andere Gebiete vermochte wohl den mythischen Sproß der deutschen Sage zu verkümmern, seine Wurzeln zu untergraben, aber nicht völlig den alten Saftzufluß zu unterbinden. Diese mythischen Sagen bilden den bedeutendsten Teil der deutschen Sagenwelt, neben denen dann noch die christlichen (Legenden) und die historischen Sagen erscheinen. Nach E. H. Meyers Vorgang[1] teilen wir die mythischen heidnischen Sagen in drei Hauptgruppen ein, weil drei Erscheinungsgruppen aus dem Gesamtleben der Menschheit und der Natur auf die Sinne und das Gemüt und somit auf die schaffende Phantasie des Volkes den stärksten Eindruck machen, nämlich Tod, Alpdruck und Naturerscheinungen.

Des Todes grausige und furchtbare Umarmung hat schon seit jeher bei allen Völkern ein unbezwingliches Grauen erweckt und das Herz unserer Ahnen mit allerlei Kombinationen erfüllt, von denen uns in der Sage, im besonderen der Gespenstersage, noch vieles erhalten ist. Das Skelettgerippe mit der Hippe und Sanduhr, der personifizierte Tod ist allbekannt, aber erst neueren Ursprungs; in der Sage erscheint er zuweilen als ungeheurer Riese, wie auf dem Totensteine, einem steilen Felsberge bei Kupferhammer unweit Neuenhofen, von wo er in der zwölften Stunde in der Richtung nach Grobitz fortgeht und in dem großen Garten bei der alten Kapelle verschwindet. In Weida in der Eifel sah man einmal den Tod auf einem Schimmel hinein in das Spital reiten. Auch in einer bayrischen Sage reitet er auf einem Schimmel; doch auch als graues Männlein auf


  1. E. Hugo Meyer, Deutsche Volksk. Straßburg 1898. S. 342.
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Karl Wehrhan: Die Sage. Wilhelm Heims, Leipzig 1908, Seite 57. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Sage-Karl_Wehrhan-1908.djvu/65&oldid=- (Version vom 31.7.2018)