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bittere Verachtung alles Niedrigen, Charakterlosen und des Eiteln, mit einem Worte die männlichen Eigenschaften und Leidenschaften der Seele in ihren höchsten Lebensäußerungen darzustellen. Aus seinen titanischen Gestalten sieht der befreite Menschengeist gleichsam in vollem Bewußtsein seiner von Gott ihm verliehenen Macht, mit wahrhaft olympischem Stolze auf die gesprengten Fesseln der Menschheit herab.

Es ist gewiß merkwürdig, daß die Hauptvertreter sowohl der einen, als der andern Seelenstimmung, Correggio und Michelangelo, zur nämlichen Zeit blühten. Michelangelo, der doch seiner ganzen Gesinnung nach eher der Zeit Dante’s angehört, hat sowohl durch seine Erscheinung als auch dadurch, daß er meist für Päpste und in den zwei moralischen Hauptstädten des damaligen Italiens, Rom und Florenz, wirkte, einen weit unmittelbareren und gewaltigeren Eindruck auf seine Zeitgenossen hervorgebracht als Correggio. Alle Geister, die mit dem seinigen in Berührung kamen, wurden von ihm unterjocht oder aus ihrer natürlichen Bahn gebracht, und so wurde durch ihn der Sturz der Kunst nur jäher, als er wohl ohnedem gewesen wäre. Correggio dagegen wirkte mehr mittelbar durch die Carracci; und so finden sich seine unglücklichen Nachahmer erst im siebzehnten Jahrhundert reichlich ein.

Zwischen der gewaltigen Individualität des Michelangelo und des Correggio steht der göttliche Raphael mitten inne, als der maaßvollste, ruhigste, vollkommenste aller Künstler, als der Einzige, welcher in dieser Beziehung den Griechen ebenbürtig war. Glückselig das Land, das solche Menschen der Welt zu bieten hatte!

Doch ich muß meine jungen Freunde um Verzeihung bitten, sie so lange hingehalten zu haben mit dieser Expectoration, welche überdies etwas nach dem Katheder zu riechen scheint. Kehren wir also zu den Werken unsers Correggio zurück. Aus den obenbezeichneten Jugendbildern von ihm spricht am meisten seine einfache, naive,

Empfohlene Zitierweise:
Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 151. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/170&oldid=- (Version vom 31.7.2018)