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Genius und die Hand Giorgione’s empfunden und gesehen zu haben, ehe ich entdeckte, daß es schon im Verzeichnisse des Anonymus des Morelli als solches aufgeführt steht.

Wie nun solch ein Werk, die Quintessenz venezianischer Kunst, so lange Zeit unbeachtet bleiben konnte, wäre für mich geradezu ein Räthsel, wenn ich nicht aus langer Erfahrung wüßte, daß in Sachen der Kunst das unglaublichste allerdings möglich ist. Wenn ich bedenke, daß im Saale nebenan die s. g. Madonna di Caitone das vermeintliche Werk des Moretto, hängt, ein Bild, welches von sehr geachteten und geistreichen Kunstschriftstellern z. B. von Quandt und Rio, als Original bewundert und in den Himmel erhoben werden konnte, und daß dagegen das Auge nur sehr weniger Kunstfreunde bisher durch das wunderbare Licht sich angezogen fühlte, das selbst durch die Hülle hindurch, mit der der Restaurator dieses herrlichste aller Venusbilder der Welt versehen hat, immer noch strahlend hervorscheint, – wenn ich dieses bedenke, so befällt mich ein trauriges Gefühl, eine tiefe Entmuthigung, und ich muß mir selbst sagen: was nützt alle unsere gepriesene Bildung, was frommen die Tausende von Büchern über Aesthetik und Kunst, was helfen unsere öffentlichen Vorlesungen, was unsere jährlichen Kunstausstellungen, wenn wir, ohne besondere Fingerzeige, stumpf und gefühllos vorbeigehen können an einem der herrlichsten, vollkommensten Werke, das die Kunst aller Zeiten je ans Licht gebracht hat?! – – Armer großer Giorgione, wie wenig versteht dich doch diese moderne Welt, ja, wie wenig haben selbst deine eigenen Landsleute bald nach deinem Tode dich verstanden! Wurde dein strahlendes Antlitz nicht selbst in Bildern gesucht und gefunden, worin doch nur deine Karikatur gegeben ist? Wer diese Venus des Giorgione, diese traumhaft schöne Weibergestalt, nicht zu würdigen im Stande ist, der sage mir ja nicht, daß Raffael, Lionardo, Correggio und Tizian ihn entzücken.

Empfohlene Zitierweise:
Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 194. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/213&oldid=- (Version vom 31.7.2018)