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Hat Raffael oder irgend ein Künstler, selbst unter den Griechen, je ein feineres Liniengefühl an den Tag gelegt als Giorgione in dieser Venusgestalt? Wie klotzig und bäurisch erscheint im Vergleiche das[a 1] nackte Weib des Palma vecchio an der nämlichen Wand, wie irdisch und aller innern Anmuth baar ist nicht die berühmte Venus mit Cupido des Tizian in der Tribüne der Uffizigalerie![1] Dazu diese paradiesische Landschaft! Würde dieses Gemälde mit Verständniß und großer Sorgfalt vom Schmutze und der Farbenmaske des Restaurators, die es verdecken, befreit, so glaub’ ich, müßte diese Venus des Giorgione zu den Kunstperlen erster Größe nicht nur der Dresdner sondern aller Galerien der Welt gezählt werden. Stellt man diese Venus, welche das Prototyp dieser Art Liebesbilder für die Venezianische Schule wurde, neben die berühmten Venusbilder Tizian’s oder neben seine Danaegestalten, so wird man leicht erkennen, um wie viel an Feinheit des Gefühls, an Adel der Auffassung Giorgione alle seine Nachahmer überragt. Die Danae von Tizian ist so realistisch, ja, sagen wir’s gerade heraus, so niedrig gedacht, daß man unwillkürlich in der Alten daneben an eine Kupplerin vom gemeinsten Schrote erinnert wird. Neben der Venus des Botticelli im Korridor der Uffizigalerie und neben der Danae des Correggio im Borghesepalast zu Rom erscheint freilich auch diese schlafende Venus des Giorgione noch immer realistisch, jedoch im schönsten, edelsten Sinne des Wortes. Giorgione war eben eine gesundere, kräftigere, lebensfreudigere Natur als Correggio; auch hatte sich dieser letztere in seiner Danae ein ganz anderes Ziel gesetzt als der Venezianer in seiner schlafenden Venus. Die sinnliche Wollust ist wohl nie


  1. Dieses in so manch’ anderer Beziehung treffliche Gemälde Tizian’s wurde indeß vor etwa zwei Jahren durch eine neue Restauration fast völlig verdorben und ist in seinem gegenwärtigen Zustande ungenießbar.

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  1. Vorlage: as
Empfohlene Zitierweise:
Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 195. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/214&oldid=- (Version vom 31.7.2018)