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Kenner und Experts täuschen könne; daß aber eine so einfältige, flache, schwerfällige Kopie wie dies Bild hier, Männern, die sich doch ihr ganzes Leben mit der alten Kunst befaßt und über hunderte und hunderte von Werken alter Meister ihr Urtheil der Welt zum besten gegeben haben, zu imponiren im Stande ist, das hätte ich mir wahrlich doch nie denken können. Armer unglücklicher Moretto, welchen Begriff muß sich das die Dresdner Galerie besuchende Publikum nach dieser Madonna von Caitone von deiner Kunst machen! Während du in deinen Bildern durch die so liebenswürdige, feine Harmonie deiner glänzenden Farben, durch den Adel der Form und die Eleganz der Bewegung alle Herzen zu fesseln verstehst, bist du in Dresden, am Hauptsammelplatze aller Kunstfreunde der Welt, verurtheilt am Pranger zu stehen, unter dem plumpen Aushängeschild einer einfältigen, blut- und knochenlosen, histerisch aussehenden Nonne[1] ! Nein, im Namen des


  1. Es ist wohl kaum nöthig, vor dieser erbärmlichen Kopie aus dem vorigen Jahrhunderte den feineren Kenner auf die flachen, knochenlosen Hände, auf den dumpfen, einfältigen Ausdruck dieser Madonna, auf das schreiende Ziegelroth des Bodens u. a. m. aufmerksam zu machen. Auf dem Originalgemälde macht diese, übrigens nicht gelungenste unter den sonst so anmuthigen Frauengestalten des Moretto, gerade durch den feinen Silberton ihres langen weißen Gewandes einen tiefpoetischen Eindruck. Wo ist aber jener Silberglanz in dem Gewande dieser Madonna von Caitone geblieben? Wahrscheinlich in Paitone, auf jenem kahlen Hügel mit dem kleinen Kirchlein, eine gute Viertelstunde vom darunterliegenden Dorfe entfernt. Dort im Originalbilde hatte es wohl einen Sinn, die Maria auf der Erde in Nonnentracht darzustellen, denn dieselbe spricht ja mit dem vor ihr stehenden Knaben, der auf jenem Hügel Brombeeren sammeln wollte, während sie ihm aufträgt, ins Dorf hinunter zu gehen und den Leuten unten zu empfehlen, der Madonna auf dem Hügel ein Kirchlein zu errichten, wenn die Gemeinde von der Pest befreit zu werden verlangte. Was kann aber hier in der Kopie diese dumpf vor sich hinbrütende Frau sagen wollen? Kein vernünftiger Mensch wird in dieser scrophulösen Nonne die Mutter Gottes auch nur ahnen können. In der Pfarrkirche von Auro, einem Dörfchen in der Val Sabbia, im Brescianergebirge, habe ich eine ältere Kopie der Madonna von Paitone gesehen, und ich habe kaum nöthig zu sagen, daß hier auch der Bauernknabe mit seinem Körbchen Brombeeren dargestellt war.
Empfohlene Zitierweise:
Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 199. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/218&oldid=- (Version vom 31.7.2018)