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edeln Brescianers protestire ich mit der ganzen Energie eines tief beleidigten Herzens gegen dieses unwürdige Plagiat auf den Meister. Daß diese alberne Frauengestalt da die Madonna von Caitone vorstelle, dagegen habe ich nichts einzuwenden, nur möge Herr Hübner meinen Rath befolgen, dieselbe fernerhin nicht mehr mit Moretto’s Madonna von Paitone zu verwechseln.

Besser als Alessandro Bonvicino, Moretto genannt ist der große Tizian, sein Zeitgenosse, in der Dresdner Galerie vertreten. Der Hübner’sche Katalog schreibt ihm nicht weniger als neun authentische Werke zu. Sehen wir uns gleich dieselben näher an.

Sein frühestes Bild unter diesen ist ohne Zweifel der weltberühmte „Zinsgroschen“, No. 222, bezeichnet Ticianus. (Fast alle Werke aus der Frühzeit des Meisters, bis etwa zum Jahre 1522–24, sind Ticianus und nicht Titianus bezeichnet.) Die Herren Cr. und Cav. setzen dieses Gemälde in’s Jahr 1508 (Vita di Tiziano, ecc.), Vasari dagegen in’s Jahr 1514. Ich meinestheils würde eher der Ansicht der Herren Cr. und Cav. als der des Vasari mich nähern[1]. Mir ist kein Bild Tizian’s bekannt, das mit solcher Sorgfalt und Liebe ausgeführt wäre, wie dieser edle, tiefempfundene Christuskopf.[2] Dieses Bild ist


  1. Andere behaupten, daß der „Zinsgroschen“ zwischen den Jahren 1516 und 1522 gemalt sein müsse, da Tizian nicht vor dem Jahre 1516 nach Ferrara gekommen wäre. Diese wollen also, daß der Zinsgroschen um mehrere Jahre nach der „Assunta“ entstanden sei, wovon ich mich nicht recht überzeugen kann, da der Typus des Christus in diesem Bilde der nämliche ist, den wir im Kreuztragenden Christus von Tizian in der Kirche von S. Rocco (gewiß ein ganz frühes Werk des Meisters) wahrnehmen.
  2. Herr Professor Thausing behauptet in seinem Werke über Dürer, S. 269, daß der Venezianer zu diesem seinem seelenvollsten Bilde von dem deutschen Meister Dürer inspirirt worden und daß der Zinsgroschen daher „deutschen Ursprungs“ sei. Ich gestehe, daß mir diese Bemerkung meines trefflichen Freundes fast wie eine patriotische Illusion vorkommt. Auch scheint es mir, daß dem großen Dürer kein Abbruch geschähe, wenn man dem Cadoriner diesen seinen Christus unbedingt ließe. Ich will damit keineswegs sagen, daß ich nicht auch in der Kunst die geistigen und moralischen Analogien anerkennen und denselben ihre volle Bedeutung lassen wolle, nur kommt es mir vor, als ob man in neuerer Zeit mit diesen Analogien insofern einen argen Mißbrauch getrieben habe, als man dieselben zum System hat erheben wollen.
Empfohlene Zitierweise:
Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 200. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/219&oldid=- (Version vom 31.7.2018)