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nach der van Eyck’schen Weise gemalt, was man z. B. noch an einer Stelle am Halse des Christus, wo die Lasur verschwunden ist, sehen kann. Man behauptet, der „Zinsgroschen“ wäre von Tizian für den Herzog Alphons von Ferrara gemalt worden – was ich dahin gestellt lassen will. Soviel scheint sicher zu sein, daß das Bild erst von Alphons IV. oder von Franz I. von Este angekauft wurde und auf diese Weise in die Galerie von Modena und sodann unter den „hundert Bildern“ nach Dresden kam.

Ein anderes, herrliches Gemälde aus der Jugendzeit des Meisters ist auch das Tafelbild, No. 223, worauf die Madonna mit dem Christkinde dargestellt ist, umgeben von den Heiligen Johannes dem Täufer, Hieronymus, Paulus und Magdalena. Trotz der argen Restauration noch immer ein Wunder leuchtender Farbe! Ich würde dieses jugendfrische, glanzvolle Werk Tizian’s ungefähr in die Epoche setzen, als er seine berühmte „Assunta“ für die Kirche von Sa. Maria gloriosa de’ Frari (jetzt in der Akademie von Venedig) malte, d. h. zwischen 1514–1520[1].


  1. Habe ich die Herren Cr. u. Cav. recht verstanden, so lassen sie in ihrem Buche „la vita di Tiziano“, II, 477 und 478, dieses Gemälde als Werk Tizian’s nicht gelten, sondern schreiben es dem Andrea Schiavoni zu. Mit ästhetischen oder technischen Beweismitteln läßt sich bei der Bestimmung eines Kunstwerkes nichts entscheiden. Hier kann man auf das deutsche Sprüchwort hinweisen: Wie man in den Wald hinein schreit, so tönt’s heraus. Deßhalb erlaube ich mir, für die Aufrechterhaltung meiner eigenen Ansicht nur auf ein ganz materielles, aber für Tizian sehr charakteristisches Kennzeichen meine jungen Freunde aufmerksam zu machen. Eines der charakteristischsten Merkmale, das ich auf mehr denn fünfzig authentischen Werken des Cadoriner’s zu bestätigen Gelegenheit hatte, besteht in einer in den Männerhänden zu stark ausgesprochenen Daumenwurzel, etwa so, wie ich dieselbe hier wiedergebe, und wie man sie ebenfalls an der Hand des Täufers in diesem Bilde sehen kann, in der „Assunta“ an der Hand des Apostels im rothen Gewande, im „Zinsgroschen“ an der Hand des Pharisäers u. s. f. Ein Schüler oder Kopist würde dergleichen Fehler gerade vermieden haben. Uebrigens hat dies Gemälde großen Schaden erlitten: der Täufer ist ganz übermalt, der rechte Arm des Christkindes übel zugerichtet, und die Lasuren um den Mund der Maria sind zum Theil verschwunden, so daß man darunter die graue Temperauntermalung gewahrt. Auch der h. Paulus ist überschmiert. Glücklicherweise jedoch ist die bezaubernde Figur der h. Magdalena noch leidlich erhalten, als wenn ihre bestechende Schönheit sie vor der Restaurationswuth des Barbaren geschützt hätte. Ihre linke Hand sagt dem, welcher Tizian kennt, mehr als alles andere: ich bin die rechtmäßige Tochter des Cadoriners. Auch der Himmel ist verdorben. Die in diesem Bilde vom Meister gebrauchten rothen Farben sind ungefähr dieselben, wie wir in der „Assunta“ in Venedig finden. Trotz aller Verheerung übt dieses wunderbar schöne Gemälde noch durch seine Maske hindurch einen unbeschreiblichen Zauber auf jedes dafür empfängliche Gemüth aus.
Empfohlene Zitierweise:
Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 201. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/220&oldid=- (Version vom 31.7.2018)