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angesehen werden. Die Erörterung solcher Fragen gehört indessen nicht hierher. Ich gehe daher zur Betrachtung des großen Werkes von Raffael über, der s. g. Madonna di San Sisto, welches Bild dereinst in der Kirche von S. Sisto in Piacenza aufgestellt war. Es ist dies vielleicht das schönste Bild der Welt, und ihm vor allen verdankt die Dresdner Galerie ihren Weltruf. Das Gemälde kostete Sachsen ungefähr 220,000 Franken. Welchen Preis müßte man heutzutage, wo man ein Murillobild 730,000 Franken werth erachten konnte, dafür bezahlen? Nur ein Rothschild wäre im Stande, es an sich zu bringen. Stünde aber das Bild noch in seiner kleinen Kirche von S. Sisto zu Piacenza, so würde jene Stadt heutzutage nicht nur genannter und auch besuchter sein, als sie es eben ist, sondern dieses Bild allein würde der Einwohnerschaft mehr Gewinn einbringen, als alles andere, was sie sonst besitzt. Diesen schönen Dienst haben die Placentiner der feilen Habsucht ihrer Benediktiner-Mönche im vorigen Jahrhunderte zu verdanken. Man sieht auch hier, daß die Pfaffen nicht besser sind als die Laien und Weltkinder. Sie sind eben auch Söhne ihrer Zeit.

Das Bild hat jetzt einen neuen kostbaren, reichverzierten, aber etwas plumpen Rahmen erhalten, dessen schimmerndes Gold den Farben etwas wehe thut. Ueberdies ist es in einem besondern Zimmer mit Nordlicht aufgestellt. Dieser Raum erscheint mir viel zu enge für das Bild, auch würde, meinem Gefühle nach, diese traumhafte, himmlische Erscheinung, höher aufgestellt, etwa in einem der großen Säle, einen vollkommnern Eindruck auf den Beschauer hervorbringen als hier, wo man überdies leider auch gar zu sehr die großen Schäden, die das Gemälde, zumal durch die Restaurationen, hat erleiden müssen, gewahr wird. Namentlich fallen diese Beschädigungen am Jesuskinde und an der Stirne der Madonna in die Augen. Aber obwohl beschädigt und übertüpfelt, macht das Gemälde noch immer einen unbeschreiblichen, einen zauberhaften Eindruck.

Empfohlene Zitierweise:
Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 248. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/267&oldid=- (Version vom 31.7.2018)