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welche später von den Raffaelisten aller Welttheile bestätigt und besiegelt wurde, – keinem andern als dem armen, verkannten Bernardino Pinturicchio. Die meisten derselben beziehen sich auf Werke, die theils von ihm selbst, theils (die Gewandstudien) von P. Perugino in den Jahren 1480 bis 82 in Rom ausgeführt wurden. Andere wieder, wie die Kopien nach Zeichnungen des Perugino, die Nachbildungen nach L. Signorelli, nach Andrea Mantegna, nach Lionardo da Vinci, fallen in viel spätere Zeiten. Der „fliegende Engel mit dem Tamburin“[1] z. B. gehört zu Pinturicchio’s sienesischer Zeit (1503) und stimmt ganz und gar in der Behandlung mit seiner herrlichen Tuschzeichnung „Aeneas Silvius Piccolomini, der zum Conzil von Basel abreist“ (in der Uffizigalerie) überein, welche Zeichnung von der sorglosen Direktion jener Sammlung noch immerfort dem Raffael zugeschrieben wird.

Aus dem Gesagten ergäbe sich überdieß, daß der vom seligen Professor Giuseppe Bossi erworbene Band Handzeichnungen ursprünglich nicht das Skizzenbuch des Malers sein konnte, sondern ein Album war, dem der Sammler, außer der Reihenfolge von Zeichnungen des Pinturicchio, die er wahrscheinlich beisammen gefunden hatte, noch zwei Zeichnungen von Raffael, ein paar von Antonio del Pollajuolo, nebst einigen andern unbedeutenden aus der Peruginischen Schule hinzugefügt hatte.

Darf ich nun annehmen, in den Augen der Mehrzahl meiner wenigen Leser über die Richtigkeit der Bezeichnung der s. g. Raffaelischen Federzeichnungen in Venedig vielleicht einige Zweifel wachgerufen zu haben, so wäre es andererseits eine große Illusion von mir, wenn ich mich der süßen Hoffnung überlassen wollte, meine jungen Freunde überzeugt zu haben, daß die zwei herrlichen


  1. No. 20 im Kataloge von Passavant; und in jenem von Selvatico, Rahmen 24,4, mit der Bemerkung „gehört zur schönsten Epoche des Sanzio“.
Empfohlene Zitierweise:
Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 323. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/342&oldid=- (Version vom 31.7.2018)