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Wandgemälde in der Sixtinischen Kapelle nicht das Werk des Perugino, sondern des Pinturicchio sind. Ich kenne aus eigener Erfahrung die ganze Macht und Beharrlichkeit der vorgefaßten Ideen und weiß gar wohl, daß dieselben, wenn man sie zur Thüre hinaustreibt, zum Fenster wieder hereinschlüpfen. Uebrigens kann mir auch am Resultate dieser meiner zweiten Beweisführung viel weniger liegen als an dem der ersten. Bleibt es doch immer eine secundäre Frage für die Kunstgeschichte, zu wissen, ob ein Kunstwerk dem einen oder dem andern der zwei ebenbürtigen Peruginer Maler, Vannucci und Betti, angehöre, während es mir fast als Haeresie erscheint, Raffael, diese edelste, vollkommenste, liebenswürdigste Gestalt unter allen Künstlern der Neuzeit, selbst in den ersten Schritten seiner ruhmvollen Bahn mit Künstlern zu verwechseln, die, so trefflich sie auch immer in ihrer besonderen Art sein mögen, doch nur momentan und nur in äußerlichen Schulbeziehungen zu ihm standen.

Und nun genug von Pinturicchio. Wenn er in Darstellung ernster, religiöser Gegenstände, was Maß, schöne Raumausfüllung und Vollendung anbetrifft, den Perugino nicht erreicht; wenn seine Formen nicht so edel, der Ausdruck der religiösen Seelenstimmung nicht so tief ist, wie bei Pietro, so ist Pinturicchio dafür, in meinen Augen wenigstens, bewußtloser, frischer und gewürziger als Perugino und ermüdet uns seltener als dieser durch Einförmigkeit und durch jene conventionelle Süßigkeit, die, namentlich in seinen Produktionen der letzten zwanzig Jahre, ihn uns geradezu überdrüssig werden läßt. Als phantasiereicher Landschaftsmaler aber überragt Pinturicchio gewiß die meisten seiner Zeitgenossen.

Pinturicchio führt uns naturgemäß zu Raffael Sanzio, aus dessen Frühzeit die Berliner Sammlung einige kostbare Werke besitzt.

Zur florentinischen Schule, wie es im Kataloge heißt, darf, scheint mir, Raffael doch wohl nicht gezählt

Empfohlene Zitierweise:
Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 324. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/343&oldid=- (Version vom 31.7.2018)