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werden, obgleich es nicht zu leugnen ist, daß er während seines mehrfachen Aufenthaltes in Florenz Einflüsse auch von dortigen Meistern, namentlich von Lionardo da Vinci und von Fra Bartolommeo, in sich aufgenommen habe. Nichtsdestoweniger bleibt er, wenigstens unserer Ansicht nach, sowohl in seiner Empfindungs- als auch in seiner Auffassungsweise stets Umbrer.

In Rom angekommen, hat er mit der Zeit allerdings eine Schule, die Raffaelische, gebildet; diese kann jedoch in unserm Sinne mindestens ebensowenig als die des Michelangelo eine römische genannt werden. Ich sage: in unserm Sinne, denn für diejenigen, welche die Kunst, wie es eben gang und gebe ist, als etwas Aeußerliches betrachten, unabhängig von der Eigenthümlichkeit des Volkes, das sich in derselben ausspricht, für solche giebt es ja sogar schweizerische und tyrolische Malerschulen. Der Katalog sagt ferner, daß Raffael, nachdem er die erste Unterweisung von seinem Vater empfangen, also bis 1494, nach dessen Tode sofort in die Schule des Pietro Perugino gekommen sei.

Es möge mir vergönnt sein, diesen Punkt eingehend zu erörtern und zwar mit dem etwas verwegenen Vorsatze, meinen jungen Freunden eine Ansicht auseinanderzusetzen, die ich lange mit mir herumgetragen, die aber durch das Studium der Jugendwerke Raffael’s einerseits und derer des Timoteo Viti andererseits sich nach und nach zur klarsten Ueberzeugung in mir gestaltet hat. Dieselbe steht allerdings mit der zum Axiom gewordenen Lehre von der künstlerischen Erziehung Raffael’s in direktem Widerspruch, und ich würde mich keineswegs wundern, wenn sie, aus der Feder einer Autorität etwa hervorgehend, Anlaß zu einem wahren Skandal bei den Raffaelisten des civilisirten Europa gäbe; allein da sie von einem Sarmatischen Kunstbeflissenen, welcher zudem nicht den mindesten Anspruch auf Autorität macht, noch machen darf, nur als Hypothese ausgeht, ist wohl keine Gefahr

Empfohlene Zitierweise:
Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 325. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/344&oldid=- (Version vom 31.7.2018)