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vorhanden, daß irgend jemandes Glauben an die hergebrachten Kunsttraditionen dadurch einen Stoß erlitte.

Vasari erzählt uns bekanntlich in seinen Lebensbeschreibungen der berühmtesten Künstler neben so viel Wahrem und Trefflichem auch nicht wenig Falsches, ja so manche von ihm selbst erfundene Fabel; doch ist er bis auf unsere Tage die Hauptquelle geblieben, aus der alle Schriftsteller, die sich über Raffael vernehmen ließen, geschöpft haben.

Auf die Autorität des Aretiners hin lassen somit die Kunsthistoriker, den fleißigen Passavant mit inbegriffen[1], den jungen elfjährigen Raffael, zwar nicht ganz so, wie Vasari schrieb, von seinem Vater dem Pietro Perugino vorgestellt und empfohlen werden, und dies ist schon ein Fortschritt, jedoch sie lassen ihn noch immer, kurz nach seines Vaters Tode, also um’s Jahr 1495, nach Perugia in die Werkstätte des Pietro Vannucci kommen.


  1. Der verstorbene Passavant hat ein ohne Zweifel sehr verdienstvolles Werk über Raffael der Welt hinterlassen. Doch scheint er, seinen Geistesgaben nach zu urtheilen, von Natur eher zum Gelehrten als zum Künstler gestempelt gewesen zu sein. Auch ist es ihm, trotz seines unendlichen Fleißes und seiner rühmlichen Gewissenhaftigkeit, nicht gelungen, dem Raffaelischen Genius, der intimen, dem Urbinaten eigenthümlichen Empfindungsweise ganz beizukommen und in dieselbe sich einzuleben. Deßhalb ist auch sein verdienstvolles Buch heutzutage sozusagen bereits schon veraltet und kann uns höchstens noch als Inventarium der Raffaelischen Werke gute Dienste leisten.
    Es scheint überhaupt uns Nordländern fast ebensowenig von der Mutter Natur gestattet zu sein, in den Kern der italienischen Denk- und Gefühlsweise zu dringen als es einem Italiener vergönnt ist, das deutsche und russische Wesen zu ergründen. Wir dringen eben alle bis auf einen gewissen Punkt der objektiven Aeußerlichkeit und trachten sodann das übrige auf unsere Art, d. h. subjektiv, zu ergänzen. Das schlagendste Beispiel davon liefern uns alle die vlämischen und deutschen Kopien und Nachbildungen italienischer Kunstwerke aus dem 15. und 16. Jahrhundert, welche in öffentlichen und Privatsammlungen unser Publikum viel mehr ergötzen als dieß die Originalbilder thun würden. Natürlich giebt es von dieser Regel glänzende Ausnahmen, allein dieselben sind sehr selten.
Empfohlene Zitierweise:
Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 326. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/345&oldid=- (Version vom 31.7.2018)