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Abschied nehmen, wollen wir noch einen Blick dem zwar sehr verdorbenen aber noch immerfort reizenden Bildchen schenken, welches die Nummer 147 trägt und von der Direktion der Galerie in vorsichtiger Weise nur dubitative dem Raffael zugeschrieben wird. Es stellt Maria mit dem Kinde und dem kleinen Johannes dar. Mir scheint es, daß auch aus diesem Bilde trotz der Unbilden, die es erfahren hat, noch immer Raffaelischer Geist uns entgegenschimmere. Die Formen des Ohres und der Hände sind die seinigen, der landschaftliche Hintergrund erinnert an den auf der „Madonna di casa Tempi“ in der Münchner Galerie. Allerdings ist das Gemälde verrieben, und haben namentlich der Mund und die Augenparthien der Maria durch Uebermalung gelitten, wie dies auch schon im Katalog bemerkt ist. Täusche ich mich nicht, so dürfte dies Bild kurze Zeit vor der Madonna di casa Tempi entstanden sein.

Doch ich sehe, ich habe zu ausführlich bei der umbrischen Schule verweilt; um meine Leser dafür schadlos zu halten, verspreche ich, bei Besprechung der florentinischen Malerschule mich um so kürzer zu fassen. Dies darf ich mit um so ruhigerem Gewissen thun, als keine andere Schule Italiens wohl mehr studirt worden und somit auch besser bekannt ist als gerade diese.

Der verstorbene Baron von Rumohr, der vornehmlich dieser florentinischen Schule und ihren Bestrebungen seine Aufmerksamkeit zuwandte, unterscheidet in derselben, wie mich dünkt sehr scharfsinnig, im Laufe des 15. Jahrhunderts drei Hauptrichtungen. „Der vorwaltende Naturalismus der Florentiner, so bemerkt er (II, 271), spaltete sich nunmehr in zwei entgegengesetzte Richtungen aus. Handlung, Bewegung, Ausdruck heftiger und starker Affekte ward das Erbtheil der Schule des Fra Filippo; sinnliche Wahrscheinlichkeit und Richtigkeit in der Charakteristik des Einzelnen das Ziel einer Schule, welche, wie ich glaube, von Cosimo Rosselli ausgegangen ist, obwohl sie dessen spätere Leistungen weit übertroffen hat.“

Empfohlene Zitierweise:
Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 378. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/397&oldid=- (Version vom 31.7.2018)