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Giambellino ist großartig und ernst, anmuthig und liebreich naiv und einfach, und dies stets am rechten Orte, und wenn es der Gegenstand erheischt. Seine Frauen und Kinder, seine Greise und Jünglinge sind nie dieselben und haben nur selten den gleichen Typus oder Ausdruck.

Dies alles sei jedoch bemerkt ohne damit den eminenten Verdiensten des großen Mantegna den geringsten Abbruch thun zu wollen; gehöre ich doch wahrlich nicht zu jenen Kritikern, die in einer außerordentlichen Individualität alle Eigenschaften suchen und verlangen. Ja, ich glaube sogar, daß gewisse Geistes- und Gemüthsgaben geradezu andere ausschließen, und daß somit Mantegna sowohl wie Michelangelo nicht jene Höhe in ihrer Art erreicht hätten, würden an ihrer Wiege die Grazien gestanden haben. Um meinen Gedanken verständlicher zu machen, möchte ich sagen: Besäße Bismark alle jene Qualitäten, die mancher seiner Widersacher an ihm vermißt, so wäre schwerlich die Einheit Deutschlands eine Wahrheit geworden.

In der Epoche, in der die Kunst vornehmlich den Charakter darzustellen bemüht war, ist Giambellino nach Mantegna der größte Charakterzeichner in Oberitalien; später, als zur Hauptaufgabe der Kunst die Darstellung der menschlichen Seelenregungen gehörte, steht er keinem andern nach in der Versinnlichung der Mutterliebe, der Frömmigkeit, des naiven kindlichen Frohsinns, sowie der religiösen Demuth bei den Frauen, eines gotterfüllten Ernstes bei den Männern. Dramatisch ist Bellini zwar nie, seine Heiligen sind jedoch alle voll Lebenskraft, Energie und Würde.

Die Werke des Giambellino sind schon bald nach seinem Tode mit denen seiner Schüler und Nachahmer verwechselt worden, ja etliche dieser letztern, in der Absicht, ihre Bilder leichter und auch theurer an den Mann zu bringen, scheuten sich nicht, dieselben mit dem Namen des Meisters zu versehen. Solche falsche Aufschriften (Cartellini) sind

Empfohlene Zitierweise:
Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 401. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/420&oldid=- (Version vom 31.7.2018)