Seite:Die Werke italienischer Meister (Morelli).pdf/489

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Boltraffio gehörte einem adeligen Geschlechte von Mailand an und bekleidete in späteren Jahren auch öffentliche Stellungen in seiner Vaterstadt. Er darf zwar nicht als Maler von Profession, noch weniger aber als bloßer Dilettant betrachtet werden. Seine Bilder sind alle mit dem größten Fleiße, mit der liebevollsten Sorgfalt ausgeführt, und soweit es ihm seine Kräfte immer gestatteten, trachtete er in denselben sich seinem großen Lehrer möglichst zu nähern. Die menschliche Gestalt in größern Verhältnissen sowie den Menschen in seinen Leidenschaften darzustellen war nicht seine Sache; besser gelang es ihm dagegen, die naive Unschuld in den Kindern, die milde Anmuth in der Mutter Gottes zum Ausdruck zu bringen. Seine Bildnisse sind alle edel aufgefaßt und trefflich modellirt.

Ueber das im Berliner Katalog ihm zugemuthete männliche Porträt (No. 225) habe ich meine Ansicht bereits ausgesprochen, indem ich der verehrlichen Direktion den Vorschlag machte, dasselbe vielmehr dem Filippo Mazzola zuschreiben zu wollen[1].

Nebst der h. Barbara des Boltraffio und dem Bilde mit dem „Vertumnus und der Pomona“ des Melzi zog ein drittes Bildchen aus dieser Lionardischen Schule meine Aufmerksamkeit ganz besonders auf sich; ich meine die liebliche Gestalt der „Caritas“ (No. 109), die zwar im Katalog als Werk des B. Peruzzi aufgeführt wird, jedoch meiner modificirten Ansicht nach wohl eher dem Sodoma angehören dürfte. Giovan Antonio Bazzi, denn dies war der wahre Name des Sodoma, lernte allerdings die Anfangsgründe seiner Kunst beim Glasmaler Martino Spanzotti in Vercelli, zum Künstler jedoch reifte er erst in den zwei in Mailand, in der Nähe Lionardo’s, verlebten Jahren 1498–1500. Deßhalb muß Sodoma


  1. In der Ambrosiana finden sich unter dem Namen des Lionardo da Vinci etwa fünf fast lebensgroße Pastelzeichnungen von Boltraffio vor, worunter zwei ganz ausgezeichnet schöne, Mann und Frau darstellend.
Empfohlene Zitierweise:
Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 470. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/489&oldid=- (Version vom 31.7.2018)