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roten Nummer gezeichnetes Jäckchen den mit Senföl eingesalbten Oberkörper des Kulis bedeckt.

Der Zug hält.

Dutzende solcher exotisch duftenden Gestalten klettern hastig in die geräumige Wagenabteilung; jeder ergreift, was er gerade erwischen kann, der eine einen dünnen Spazierstock, der andere die poröse Reisetonflasche mit filtriertem Wasser, ein weniger schlauer einen schweren stählernen Handkoffer. Mit seiner Beute beladen hastet jeder wieder hinaus; ohne sich umzusehen, ohne zu fragen, rennt jeder blindlings nach irgend einer Richtung davon, nicht etwa in der Absicht zu stehlen, nein, nur aus Aufregung und Dummheit.

Wie hilft sich in diesem Tohuwabohu der erfahrene Praktikus? Ganz einfach. Er lehnt sich bei der Einfahrt aus dem Fenster und klopft jedem Kuli, der sich an den Wagengriffen anhängen will, mit seiner Reitgerte auf die Finger. Beim Halten steigt er aus, postiert sich vor die Wagentür und läßt dann nur seinen, in einer niederen Wagenklasse mitreisenden Diener oder einen einzigen Kuli hinein. Von diesem läßt er die Gepäckstücke durch die Wagenfenster den draußen mit den Armen zappelnden Kulis stückweise herausreichen; gelassen behängt und bepackt er zuerst den einen, dann einen zweiten und dritten Kuli so gründlich von oben bis unten mit Kopf-, Schulter-, Rücken- und Handlasten, daß den armen Kerlchen jedes Davonlaufen zur Unmöglichkeit wird. Schließlich wendet sich der gestrenge Sahib um und schreitet ruhig zum Stationsmaster, um sich aus dem Wirrwarr bereitstehender Züge seinen Wagen zeigen zu lassen; mit schlotternden Knieen folgt die überladene Trägerkolonne ihrem Sahib, der sie keines Blickes würdigt, denn er weiß, daß die Kulis ihres Lohnes wegen an seine Sohlen geheftet sind. Beim Einsteigen läßt er wiederum keinen der Bande in den Wagen; sein Diener zieht die Gepäckstücke einzeln in den Wagen hinein und verstaut sie sorglich darin. Dann erst geht’s ans Auszahlen. Der Sahib wirft jedem ein winziges Kupferstückchen, einen Viertelanna[WS 1], aus dem Fenster in die zusammengehaltenen, abgemergelten, bebenden Hände. Winselnd und um reichlicheren Lohn bettelnd stürzt die dürftige Gesellschaft zu Boden, der Sahib läßt sie wimmern, heulen und zanken und steckt sich ruhig eine Birmazigarre[WS 2] an, die außer durch ihre Größe auch dadurch von den unsrigen ausgezeichnet ist, daß zwischen den Blätterlagen Kümmelkörner eingewickelt zu sein pflegen; so erwartet er das Zeichen zur Abfahrt, das gewöhnlich durch einen Hammerschlag gegen ein hängendes Stück Eisenbahnschiene gegeben wird. Nun erst wirft er gnädigft der Kulihorde noch ein paar Kupfermünzen aus dem Wagenfenster zu und ergötzt sich an der darum ausbrechenden Balgerei. So offenbaren sich auch hier die beiden obersten Grundsätze, mit denen die Engländer glauben diese indischen Volksmassen meistern zu können; der eine lautet: Familiarity breeds contempt! und der andere, wichtigere: Gib und laß den Eingeborenen so wenig Geld wie möglich, denn Geld ist Macht!

Das Geräusch auf dem Bahnhof Friedrichstraße in Berlin ist friedvoll

neben dem Getöse an einer großen indischen Station. Ohne Geschrei kann

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Anna: vergleiche Anna (Münznominal)
  2. WS: Birmazigarre: vergleiche Seite 52
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 61. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/91&oldid=- (Version vom 1.7.2018)