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Weg zur Stadt zu Fuß zurückzulegen. Denn es strömten große Scharen zum Bahnhof, und ich hatte wenig Lust, mich jetzt in ein überfülltes Abteil zu setzen. Er willigte sehr gern ein. So wanderten wir allein durch den warmen mondhellen Sommerabend. Ich weiß nicht, wovon wir sprachen. Ich empfand die Stille auf dem einsamen Feldweg wohltuend, und wir freuten uns beide wie die Kinder, als in der Ferne ein Zug, von dem man nur noch die Lichter sah, wie eine leuchtende Schlange durch die Nacht fuhr. An der Endstation der Straßenbahn stiegen wir in die Tram, da ich von dort noch einen weiten Wege hatte. Unterwegs bemerkte mein Begleiter, der Heimweg sei das Schönste an der ganzen Veranstaltung gewesen.

Dagegen hatte ich nichts einzuwenden, weil mir Ruhe immer lieber war als große Menschensammlungen. Ich behielt eine angenehme Erinnerung an den nächtlichen Spaziergang. Als etwas Außergewöhnliches war er mir nicht erschienen. Bald darauf machten wir unsere Ferienreise nach Grunwald. Nach unserer Rückkehr erhielt ich eines Tages ein kurzes Briefchen von Herrn Metis, in dem er mich bat, an einem bestimmten Tage, wenn ich gerade in der Universität zu tun hätte, ins Germanistische Seminar hineinzusehen; er hätte mir etwas zu sagen und ich würde ihn dort treffen. Ich nahm an, daß es sich um die Abiturkurse handle, und ging im Vorbeigehen ins Germanistische Seminar, wo ich mich sonst nicht viel aufhielt. Die geschäftlichen Mitteilungen, die mir Herr Metis machte, waren unbedeutend. Als sie erledigt waren, fragte er, ob ich jetzt mit ihm in den Scheitinger Park hinausfahren wolle. Ich merkte, daß er sich dazu innerlich einen Ruck gab und sich sehr kühn vorkam. Das amüsierte mich. Was war denn das Großes, in den Ferien einen kleinen Spaziergang zu machen? Ich ließ mir aber nichts merken und sagte leichthin zu. Auf diesem Spaziergang lernte ich den guten Jungen erst richtig kennen. Er war das einzige Kind seiner Eltern, von seiner zärtlichen Mutter übersorgfältig gehütet und bisher von jedem weiblichen Verkehr ängstlich ferngehalten. Auch unter einer Studentin stellte sie sich offenbar etwas sehr Gefährliches vor, und jener nächtliche Spaziergang hatte sie wohl sehr erschreckt. Tatsächlich hatte er auf das empfängliche Gemüt des unschuldigen jungen Menschen einen tiefen Eindruck gemacht; die Erinnerung hatte ihn die ganzen Wochen seither nicht losgelassen. Als ich das merkte, wurde mir klar, daß ich jetzt vorsichtig sein müßte. Kurz darauf schlug mir Metis – wieder schriftlich – den gemeinsamen Besuch einer Stadtverordnetensitzung vor, in der über Theaterfragen verhandelt werden sollte. Diesmal ging ich nicht hin. Ich sagte ab und benützte den Brief, um ihm meinen „Standpunkt“ klar zu machen: an einen kameradschaftlichen

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 140. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/155&oldid=- (Version vom 31.7.2018)