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und unentgeltlich zur Arbeit zugelassen wurde. Jetzt holte sich der alte Herr seine Schülerinnen zusammen, weil fast alle seine Mitarbeiter ins Feld mußten. Ich war gerade bei Erna und ihren Freundinnen in der Klinik zu Besuch, als der Oberarzt in Uniform ins Ärztekasino kam, um sich zu verabschieden, und sagte: „Meine Damen, machen Sie sich’s hier bequem, Sie sind jetzt die Herren der Klinik“. Lilli war auch unter den „Ersatz“-Assistenten, obwohl sie noch vor dem Staatsexamen stand. Sie und Erna bewohnten gemeinsam zwei Zimmer in der Klinik. Es war eine schwere und verantwortungsvolle Tätigkeit. Oft wurden sie in die Häuser der Armen zu gefährlichen Entbindungen gerufen und mußten unter den ungünstigsten äußeren Bedingungen Eingriffe machen, die sie bisher nur als Zuschauer mitangesehen hatten oder gar nur aus Büchern kannten. Diese „poliklinische“ Tätigkeit wurde unentgeltlich geübt, weil die Armen das Material waren, an dem die jungen Ärzte lernen konnten. Es gab viel Aufregung bei diesen, oft nächtlichen, Fahrten, aber auch manche Freude. Und man reifte dabei zu Selbständigkeit und Sicherheit in der Ausübung des Berufs heran. Im Kasino herrschte ein fröhlicher, kameradschaftlicher Ton. Allerdings gab es auch Gelegenheit zu schlimmen menschlichen Erfahrungen. Wenn Erna nach Hause kam oder wenn wir sie in der Klinik besuchten, hatte sie immer viel zu erzählen. Neben der praktischen Berufstätigkeit schloß sie ihre Doktorarbeit ab und sammelte für Hans aus Büchern und Zeitschriften das literarische Material, so daß auch er die seine beenden und abliefern konnte. Auch die Sorge für seine Mutter übernahm sie an seiner Stelle. Wenn Frau Biberstein krank war, mußte sie – wenn irgend möglich – täglich nach ihr sehen. Sonst wurde sie häufig zu uns oder in die Klinik eingeladen, um ihr die Zeit zu vertreiben. So erfüllte Erna alle Pflichten einer Braut und Schwiegertochter, ohne den Namen tragen zu dürfen.

Sie war wohl etwa anderthalb Jahre an der Frauenklinik tätig gewesen, als ihr eine Stellung im Städtischen Säuglingsheim angeboten wurde. Nach längeren Überlegungen und Beratungen nahm sie sie an, da ihr ja eine gute Ausbildung auf diesem Gebiet für ihre spätere Tätigkeit als Frauenärztin sehr nützlich sein mußte. Ebenso fanden wir es für nötig, sich Erfahrung in der inneren Medizin zu erwerben. Darum ging sie im Oktober 1916 als Assistentin auf die innere Station des Rudolf-Virchow-Krankenhauses nach Berlin. Es war das erstemal, daß sie auf längere Zeit die Heimat verließ. Zur selben Zeit ging ich nach Freiburg i.Br. Ich machte die Reise über Berlin und brachte sie – zusammen mit unserm Onkel Emil Courant, der ihr die Stellung verschafft hatte – in ihr neues Heim, ehe ich weiterfuhr. Als ich Ostern 1917 für die Ferien nach

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 153. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/170&oldid=- (Version vom 31.7.2018)