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Breslau fuhr, hielt ich mich einen Tag und eine Nacht bei ihr auf. Das Virchow-Krankenhaus ist eine kleine Stadt für sich. In geraden, regelmäßigen Straßenzügen reihen sich die Pavillons aneinander. In einem netten Häuschen waren Ernas Station und die beiden Zimmer, die sie bewohnte. Für die Nacht überließ sie mir ihr Bett und schlief auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer. Wir ließen die Tür zwischen den beiden Räumen offen und sprachen abends noch lange miteinander. Ich fragte auch nach ihren Beziehungen zu Hans Biberstein, denn ich wußte, daß sie viel auf dem Herzen hatte, was nach Aussprache verlangte. Einige Zeit vorher hatte Lilli mir einmal verraten, daß Erna sich scheue, mit mir davon anzufangen, weil sie glaubte, ich hätte für solche Dinge keinen Sinn. Diese Auffassung, die wohl von der ganzen Familie geteilt wurde, war durchaus nicht richtig. Bei aller Hingabe an die Arbeit trug ich doch die Hoffnung auf eine große Liebe und glückliche Ehe im Herzen. Ohne irgendwelche Kenntnisse von katholischer Glaubens- und Sittenlehre zu haben, war ich doch ganz vom katholischen Eheideal erfüllt. Es kam vor, daß mir unter den jungen Menschen, mit denen ich zusammenkam, einer sehr gut gefiel und daß ich ihn mir als den künftigen Lebensgefährten dachte. Aber davon merkte kaum jemand etwas, und so mochte ich den meisten Menschen als kühl und unnahbar erscheinen. Auch Hans Biberstein mochte ich sehr gern, aber es stand von vornherein bei mir fest, daß er für mich nicht in Betracht käme, weil mir ganz klar war, wie Erna zu ihm stand.

Es hatte mir ein bißchen weh getan, daß sie sich den Freundinnen anvertraut hatte und mir nicht; aber ich konnte verstehen, wie es dazu gekommen war, und wußte, daß es ihr eine große Erleichterung sein würde, mit mir zu sprechen. So fragte ich geradezu: „Denkt ihr eigentlich daran, zu heiraten?“ Fast weinend kam es zurück: „Wir können ja bald nicht mehr daran denken“. Der Krieg dauerte jetzt schon das dritte Jahr und es war noch kein Ende abzusehen. Wenn Hans aber dann heimkäme, müßte er ganz von vorn mit seiner praktischen Ausbildung anfangen und könnte noch jahrelang nicht an Niederlassung denken. Außerdem hatte er immer den Wunsch gehabt, sich zu habilitieren, und sie wollte doch nicht gern, daß er ihr die wissenschaftliche Laufbahn zum Opfer brächte. Ich wußte für all diese Sorgen – vom Kriegsende abgesehen – schnell Abhilfe. „Du mußt alles darauf einstellen, daß Du Dich möglichst bald niederlassen kannst. Dann müßt Ihr für den Anfang von deiner Praxis leben“. Erna hielt es für unwahrscheinlich, daß Hans darauf eingehen würde. Aber ich ließ keine Bedenken gelten. „Es bleibt ihm doch gar nichts anderes übrig. Wie lange sollt ihr denn noch warten?“

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 154. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/171&oldid=- (Version vom 31.7.2018)