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der alle Tage in die Messe geht?“ Ich mußte über seine drollige Ausdrucksweise lachen, obgleich ich den Mangel an Ehrfurcht lebhaft empfand. Er meinte Dietrich von Hildebrand und Siegfried Hamburger, die konvertiert hatten und nun einen großen Eifer zeigten. Nein, ich gehörte nicht dazu. Fast hätte ich gesagt: „Leider nein“. „Was ist das eigentlich, Fräulein Stein? Ich verstehe gar nichts davon“. Ich verstand ein wenig, aber ich konnte nicht viel darüber sagen.

Dann saßen wir in einem Abteil II. Klasse einander gegenüber, die meiste Zeit allein. Lipps hatte auf der Herfahrt den Meister in Freiburg besucht. „Haben Sie gehört, ob er schon etwas von meiner Arbeit gelesen hat?“ „O, keine Spur! Gezeigt hat er sie mir. Er bindet manchmal die Mappe auf, nimmt die Hefte heraus, wägt sie in der Hand und sagt wohlgefällig: Sehen Sie nur, was für eine große Arbeit mir Fräulein Stein geschickt hat! Dann legt er sie schön in die Mappe zurück und bindet sie wieder zu“. „Das sind ja gute Aussichten“, sagte ich lachend.

Ich erzählte von unserm Schulbetrieb und meinen Lateinstunden. Plötzlich unterbrach mich Lipps: „Ach, Fräulein Stein, Sie wissen gar nicht, wie inferior ich mir Ihnen gegenüber vor komme!“ Ich schüttelte den Kopf. „Wie ist das möglich, da Sie doch diese Dinge selbst für durchaus inferior halten?“ „Diese Dinge – ja ...“ Aber der Eindruck war da. Er beruhte übrigens durchaus auf Gegenseitigkeit. Schon früher war mir in seinen knappen Äußerungen eine Tiefe der Einsicht entgegengetreten, neben der mir alle meine Arbeit als Stümperei erschien. Und so ging es mir auch jetzt.


2.
Echt, 7. I. 39
Vorbemerkung

Im Mai 1935, kurz nach meiner 1. hl. Profeß, mußte ich diese Aufzeichnungen abbrechen, da meine Vorgesetzten mir die Vollendung eines großen philosophischen Werkes auftrugen. Erst heute ist es mir nach mancherlei wunderbaren Fügungen möglich, mit der Fortsetzung zu beginnen.

Das Letzte, wovon ich berichtete, war meine Reise von Breslau nach Freiburg im Juli 1916. In Leipzig trennte ich mich von Hans Lipps und fuhr die Nacht hindurch bis Heidelberg. Ich hatte während meiner Gymnasialjahre immer den Traum, in Heidelberg zu

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 281. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/300&oldid=- (Version vom 31.7.2018)