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mußten weiterziehen, obgleich mein Fuß schon fast den Dienst versagte. Das zweite Gasthaus war etwas weniger vornehm als das erste. Aber danach fragten wir nicht mehr viel. Der Bescheid lautete ebenso wie im ersten. Das dritte lag schon am äußersten Rande des Städtchens und sah wenig verlockend aus. Immerhin, wir hatten keine Wahl mehr. Ich ging sofort in die Gaststube und erklärte, wir würden hier bis zum Morgen sitzen bleiben, wenn man keine Betten für uns hätte. Daraufhin gestand man, daß noch ein Zimmer frei sei und stellte es uns zur Verfügung, diesmal nun wirklich uns allen zusammen. Es standen zwei Betten und ein Sofa drin. Wir blieben in unsern Kleidern, ja wir hüllten uns noch fest in unsere Mäntel, da wir gegen die Reinlichkeit der Bettwäsche begründete Bedenken hatten. Je zwei Damen richteten sich, so gut es ging auf einem Bett ein. Hans war mit dem Sofa vielleicht noch am besten dran, fand aber offenbar keinen Schlaf; in kurzen Abständen knipste er seine Taschenlampe an, um nach der Uhr zu sehen. Zwischendurch hörte man die Turmuhr schlagen. Am Morgen machten wir nacheinander an dem winzigen Waschtisch Toilette.

Dann gingen wir den Weg zurück, den wir am Abend in der Dunkelheit gekommen waren. Als wir zu dem vornehmen Hotel gelangten, kam Rose gerade gut ausgeschlafen zum Tor heraus. Sie hatte allein ein Zimmer mit vier Betten zur Verfügung gehabt und es erst kurz, ehe wir vergeblich an diese Tür klopften, bezogen. Bis dahin hatte sie am Bahnhof gewartet, gelesen und ein belegtes Butterbrot nach dem andern verspeist; schließlich sagten ihr die Bahnbeamten, es käme nun kein Zug mehr, und zeigten ihr den Weg ins Hotel. Wir besaßen noch Humor genug, um über diese Tücke des Schicksals zu lachen. Überhaupt trug das Wiedersehen mit Rose und der Austausch der Erlebnisse dazu bei, die Atmosphäre zu entspannen. Allerdings, als unsere Schwester Rosa sich von uns trennen mußte, um nach Breslau zurückzufahren, fiel der Abschied von Hans noch recht frostig aus. Es kostete ihn sichtlich Überwindung, ihr die Hand zu reichen. Mir gegenüber war er schon etwas versöhnlicher gestimmt. Er hatte sich wohl indessen überzeugt, wenn er es auch nicht aussprach, daß das Übel nicht fingiert war; außerdem hatte ich in die Vorwürfe der andern nicht eingestimmt, es bedrückte mich viel zu sehr, daß ich an der gestörten Freude unschuldig-schuldig war. Wir mußten wieder über Reinerz zurück; es gab keinen anderen Weg nach Grunwald. Frau Biberstein empfing uns im Hausflur. Ein Blick in das Gesicht ihres Lieblings zeigte ihr, wie verärgert er war. Damit waren wir für sie erledigt. Nur Erna wurde noch zum Abschied ins Zimmer gebeten. Wir andern erhielten hier unsere Entlassung. Nun begaben wir uns ins Kurbad,

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 81. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/96&oldid=- (Version vom 31.7.2018)