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Entblößung der geistigen Kräfte in der aktiven Nacht

Arten und Weisen mehr, noch hält sie daran fest; ja sie kann nicht einmal daran festhalten“, an keiner besonderen Art zu verstehen, zu verkosten, zu empfinden; „sie besitzt jetzt alle Arten zugleich, wie einer, der nichts hat und doch alles hat“[1]. Durch das Hinausgehen aus ihren natürlichen Schranken, innerlich und äußerlich, „geht sie ohne Schranken ein in das Übernatürliche, das auch keinerlei Art und Weise mehr kennt, weil es in seinem Wesen alle Arten besitzt“. Sie muß sich emporschwingen über alles Geistige, das sie natürlicherweise erkennen und verstehen kann, auch über alles Geistige, was man in diesem Leben mit den Sinnen kosten und empfinden kann. Je mehr sie all das noch hochschätzt, desto mehr entfernt sie sich vom höchsten Gut. Schätzt sie aber alles gering im Vergleich zum höchsten Gut, so „nähert sich die Seele in der Dunkelheit mit mächtigen Schritten der Vereinigung durch das Mittel des Glaubens“[2].

Der Heilige schaltet an dieser Stelle zum besseren Verständnis eine kurze Erklärung dessen ein, was er in all diesen Ausführungen mit Vereinigung meint: nicht jene wesenhafte Vereinigung Gottes mit allen Dingen, wodurch sie in ihrem Sein erhalten werden, sondern eine „Vereinigung und Umgestaltung der Seele in Gott durch die Liebe“; diese besteht nicht immer wie jene andere, vielmehr nur dann, „wenn die Seele zur Ähnlichkeit in der Liebe gelangt ist“. Jene Vereinigung ist natürlich, diese übernatürlich. Die übernatürliche kommt zustande, wenn der Wille der Seele und der Wille Gottes in einen verschmolzen sind, sodaß es nichts gibt, was dem einen in dem andern widerstreben würde. Wenn sich also die Seele „so vollständig von dem entäußert, was dem göttlichen Willen widerstreitet und sich mit Ihm gleichförmig macht, dann ist sie durch die Liebe in Gott umgestaltet. Darunter ist nicht nur jede einzelne dem göttlichen Willen entgegengesetzte Handlung zu verstehen, sondern auch jede Ihm widerstrebende Gewohnheit .... Und weil kein Geschöpf und nichts, was so ein Geschöpf leistet und vermag, an das Wesen Gottes heranreicht oder Ihm entspricht, so muß sich die Seele losmachen von jedem Geschöpf und allen seinen Werken und Fähigkeiten .... Nur so vollzieht sich die Umgestaltung in Gott“. Das göttliche Licht wohnt also schon natürlicherweise in der Seele. Aber erst, wenn sie um Gottes willen sich alles dessen entledigt, was nicht Gott ist – das heißt Lieben! –, kann sie erleuchtet und in Gott umgestaltet werden. „Gott teilt ihr sodann Sein eigenes übernatürliches Sein mit, so daß sie Gott selber zu sein scheint und


  1. a. a. O. I 108.
  2. Aufstieg, B. II Kap. 3, E. Cr. I 108 f.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 52. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/052&oldid=- (Version vom 3.8.2020)