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Entblößung der geistigen Kräfte in der aktiven Nacht

ward fett und breit“ – das ist die zweite Stufe: eine „Erweiterung des Willens, der sich nun mit noch größerer Freiheit den zeitlichen Gütern überläßt“. Weil man anfangs die Freude nicht gezügelt hat, wird der Wille den göttlichen Dingen und heiligen Übungen entfremdet und findet keinen Geschmack mehr daran. Der Mensch unterläßt schließlich „seine gewöhnlichen täglichen Übungen, und sein ganzes Sinnen und Denken wendet sich den weltlichen Dingen zu“. Nun ist nicht mehr bloß sein Verstand und seine Urteilskraft verfinstert, „so daß er nicht mehr erkennen kann, was wahr und gerecht ist, er legt auch in großer Lauheit und Trägheit keinen Wert mehr darauf, es zu erkennen und danach zu handeln....“[1]

Die dritte Stufe besteht in der vollkommenen Abkehr von Gott: „Er verließ Gott, seinen Schöpfer“. Die soweit gekommen sind, haben gar kein Auge mehr für das, wozu das Gesetz Gottes sie verpflichtete. „Sie vergessen und vernachlässigen die Sorge um ihr Heil vollständig und wenden ihre ganze Aufmerksamkeit weltlichen Dingen zu“. Das sind die „Kinder dieser Welt“, von denen der Herr sagt, „daß sie in ihren Angelegenheiten klüger und scharfsinniger zu Werke gehen als die Kinder des Lichtes“ (Luc. 16, 8). Es sind die wahrhaft Habsüchtigen, die „nicht satt werden können. Ihr Hunger und Durst wächst in dem Maße, wie sie sich von der Quelle entfernen, die sie allein sättigen könnte, von Gott“. Sie fallen „in tausenderlei Sünden durch die Liebe zu den zeitlichen Gütern und erleiden unermeßlichen Schaden“. So gelangt man zur vierten Stufe, wo die Seele Gott vergißt, als ob Er gar nicht existierte. Diese völlige Gottvergessenheit rührt daher, daß „man das Herz, das sich mit seinem innersten Wesen Gott zuwenden sollte, mit seinem innersten Wesen dem Gelde zuwendet, als gäbe es keinen andern Gott“. Solche Menschen erheben die zeitlichen Güter zu ihrem Götzen und opfern ihnen ihr Leben, wenn ihr Verlust droht. Ihr Götze gibt ihnen, was er hat: „Verzweiflung und Tod. Und stürzt er sie auch nicht ins äußerste Elend, in den Tod, so läßt er sie in einer beständigen peinlichen Todesangst dahinleben.... Aber auch jene, denen .... geringerer Schaden erwächst, sind sehr zu bemitleiden, denn .... sie machen sehr große Rückschritte auf dem Wege zu Gott“[2]. Wer sich dagegen von aller Anhänglichkeit an zeitliche Güter freimacht, der erlangt Großmut, Freiheit des Geistes, Klarheit des Verstandes, tiefe Ruhe und friedvolles Vertrauen auf Gott, die wahre Gottesverehrung und die echte Unterwerfung des Willens unter den göttlichen


  1. a. a. O. B. III Kap. 18, E. Cr. I 322.
  2. a. a. O. B. III Kap. 18, E. Cr. I 323 f.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 82. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/082&oldid=- (Version vom 3.8.2020)