Seite:Edith Stein - Kreuzeswissenschaft.pdf/098

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wechselseitige Aufhellung von Geist und Glauben

Philosoph und Psychologe eine fertig ausgebaute Affektenlehre. Er schrieb als Vater und Lehrer für seine geistlichen Söhne und Töchter. Er wollte ihrer Bitte um Erklärung seiner geistlichen Gesänge nachkommen, besann sich auf die innere Erfahrung, die sich auf solche Weise Ausdruck verschafft hatte, wollte die Bilder in die Sprache des begrifflichen Denkens übersetzen und merkte wohl erst bei der Arbeit, welche vorbereitenden Erwägungen nötig waren, wieviel auf Schritt und Tritt herbeigeholt werden mußte, um das Verständnis zu erschließen. So konnte er auf manchen Seitenwegen weiter geführt werden, als es seine ursprüngliche Absicht war; aber niemals verlor er den leitenden Zweck aus dem Auge, stets hielt er die lebhafte Geistesbewegung mit fester Hand im Zügel und wehrte der andrängenden Gedankenfülle. Es ist auch zu bedenken, daß er seine Abhandlungen gerade in den Jahren schrieb, in denen er am meisten mit Ämtern und äußeren Geschäften überladen war. Sicherlich blieb ihm nicht die Muße zu ruhigem Komponieren und nachträglichem Überprüfen und Vergleichen. Es wäre auch sehr wohl denkbar, daß er nach längerer Unterhaltung den Faden nicht mehr da aufgriff, wo er ihm entglitten war, sondern statt dessen das zweite Werk an die Seite des ersten stellte. Es mußte an all das noch einmal erinnert werden, um in der rechten Weise die Auswertung der vorausgeschickten Darlegungen des Heiligen in Angriff nehmen zu können.

Wir haben wiedergegeben, was Johannes im Aufstieg über das Eingehen in die Nacht des Geistes sagt, um daraus Klarheit zu gewinnen über das, was er unter Geist und Glauben versteht. Denn der Glaube ist der Weg durch die Nacht zum Ziel der Vereinigung mit Gott, in ihm vollzieht sich die schmerzvolle Neugeburt des Geistes, seine Umgestaltung vom natürlichen zum übernatürlichen Sein. Die Ausführungen über Geist und Glauben beleuchten einander wechselseitig. Der Glaube verlangt den Verzicht auf die natürliche Geistestätigkeit. In diesem Verzicht besteht die aktive Nacht des Glaubens, die eigentätige Kreuzesnachfolge. Um diesen Verzicht und damit den Glauben verständlich zu machen, muß die natürliche

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 98. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/098&oldid=- (Version vom 3.8.2020)