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Passive Nacht des Geistes

Pein der Sinne im Vergleich dazu nichts ist, obgleich sie weit größer ist als in der ersten, sinnlichen Nacht. „Denn das Innere erkennt das Fehlen eines großen Gutes, das durch nichts zu heilen ist“. Schon bei Beginn dieser geistigen Nacht, „ehe noch diese Entflammung der Liebe gefühlt wird, .... verleiht Gott .... der Seele eine so große wertschätzende Gottesliebe, daß der Gedanke, sie habe Gott verloren und sei von Ihm verlassen, bei weitem das Ärgste ist, was die Seele in den Bedrängnissen dieser Nacht leidet und fühlt.... Und wenn sie in dieser Lage sicher wissen könnte, daß nicht alles verloren und zu Ende sei, daß vielmehr ihre Pein ihr zum Besten gereiche .... und daß Gott ihr nicht zürne, dann würde sie alle diese Beängstigungen für nichts achten, ja sich sogar freuen im Bewußtsein, Gott dadurch einen Dienst zu erweisen. Denn die wertschätzende Liebe Gottes .... ist so mächtig in ihr, daß sie .... mit größter Freude vielmals für Ihn sterben würde, um Ihm zu gefallen. Hat aber einmal die Liebesglut die Seele entzündet und sich mit der schon in ihr wohnenden wertschätzenden Liebe Gottes verbunden, so gewinnt sie gewöhnlich eine solche Kraft und einen solchen Mut und wird von einem so heftigen Sehnsuchtsdrang nach Gott erfüllt, daß sie mit der größten Kühnheit, ohne auf etwas zu achten oder Rücksicht zu nehmen, .... in der Kraft und Trockenheit der Liebe und des Verlangens das Äußerste und Ungewohnteste .... vollbringen würde, um den zu finden, den ihre Seele lieb hat“.

Durch die Leiden der Geistesnacht „erneuert sich die Seele wie ein Adler seine Jugend“ (Ephes. 4,24). Der menschliche Verstand, in übernatürlicher Erleuchtung mit dem göttlichen vereint, wird ein göttlicher; ebenso der Wille in der Vereinigung mit dem göttlichen Willen und der göttlichen Liebe, das Gedächtnis und alle Neigungen und Begehrungen in gottgemäßer Umwandlung und Veränderung. „So wird die Seele jetzt schon eine Seele des Himmels, .... mehr göttlich als menschlich“. Darum kann sie im Rückblick auf die Nacht rufen: „O glückliches Geschick!“[1]. Sie ist nun „unbemerkt entwichen, da schon ihr Haus in tiefer Ruhe lag“. Ihr Haus, das ist die gewöhnliche Handlungsweise der Seele, ihre Wünsche und Begehrungen, alle ihre seelischen Kräfte. Sie sind das Hausgesinde, das zur Ruhe sein mußte, um der Liebesvereinigung nicht im Wege zu stehen. Jetzt erkennt sie, daß sie „im Dunkel wohl geborgen“ war. Aller Irrtum kommt ja der Seele „durch ihre Begierden oder durch ihre Neigungen, ihre Überlegungen oder Erkenntnisse.... Sind nun diese Tätigkeiten und Regungen gehemmt, so ist es klar, daß


  1. Nacht des Geistes, § 3 Kap. 13, E. Cr. II 91 ff.
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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 121. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/121&oldid=- (Version vom 7.1.2019)