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Die Seele im Reich des Geistes und der Geister

alles am letzten Maßstab zu messen; und es ist auch keine letztlich freie Entscheidung, denn wer sich selbst nicht ganz in der Hand hat, der kann nicht wahrhaft frei verfügen, sondern läßt sich bestimmen.

Der Mensch ist dazu berufen, in seinem Innersten zu leben und sich selbst so in die Hand zu nehmen, wie es nur von hier aus möglich ist; nur von hier aus ist auch die rechte Auseinandersetzung mit der Welt möglich; nur von hier aus kann er den Platz in der Welt finden, der ihm zugedacht ist. Bei all dem durchschaut er sein Innerstes niemals ganz. Es ist ein Geheimnis Gottes, das Er allein entschleiern kann, so weit es Ihm gefällt. Dennoch ist ihm sein Innerstes in die Hand gegeben; er kann in vollkommener Freiheit darüber verfügen, aber er hat auch die Pflicht, es als ein kostbares anvertrautes Gut zu bewahren. Ein hoher Wert muß ihm im Reich der Geister zukommen: Engel haben den Auftrag, es zu behüten. Böse Geister suchen es in ihre Gewalt zu bekommen. Gott selbst hat es sich zum Wohnsitz auserwählt. Die guten und bösen Geister haben keinen freien Zutritt ins Innerste. Die guten Geister können natürlicherweise so wenig wie die bösen die „Gedanken des Herzens“ lesen, aber sie werden von Gott erleuchtet über das, was sie von den Herzensgeheimnissen wissen müssen. Überdies gibt es für die Seele geistige Wege, um sich mit den andern geschaffenen Geistern in Verbindung zu setzen. Was in ihr inneres Wort geworden ist, damit kann sie sich an einen andern Geist wenden. So denkt sich der hl. Thomas die Sprache der Engel, wodurch sie miteinander in Wechselverkehr stehen: als ein rein geistiges Sichzuwenden in der Absicht einem andern mitzuteilen, was man in sich selbst hat[1]. So ist auch der lautlose Ruf zum Schutzengel zu denken oder ein inneres Herbeirufen böser Geister. Doch auch ohne unsere Mitteilungsabsicht haben die geschaffenen Geister einen gewissen Zugang zu dem, was in uns vorgeht: nicht zu dem, was im Innersten verborgen ist, wohl aber zu dem, was in faßbarer Form in den Zusammenhang des seelischen Inneren eingegangen ist. Von hier aus können sie dann auch Schlüsse ziehen auf das, was vor ihren Blicken verborgen geschehen mag. Von den Engeln müssen wir annehmen, daß sie in ehrfürchtiger Scheu das verschlossene Heiligtum hüten. Sie möchten nur die Seele dahin bringen, daß sie selbst sich dahin zurückzieht, um es Gott zu übergeben. Des Satans Bestreben aber geht darauf, das an sich zu reißen, was Gottes Reich ist. Er kann das nicht aus eigener Macht, aber die Seele kann sich ihm selbst übergeben.


  1. Quaestiones disputatae de veritate q 9 a 4, Edith Steins Werke, Bd. III.
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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 143. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/143&oldid=- (Version vom 7.1.2019)