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Tod und Auferstehung

Seele, Ich und Freiheit

Es ist wichtig, sich möglichst rein geistig und unbildlich klarzumachen, was hier in räumlichen Bildern ausgesprochen ist. Diese Bilder sind kaum zu entbehren. Aber sie sind vieldeutig und mißverständlich. Was von außen an die Seele herantritt, gehört der Außenwelt an, und damit ist das gemeint, was nicht zur Seele selbst gehört; in der Regel auch, was nicht zu ihrem Leib gehört; denn wenn der Leib selbst ihr Äußeres genannt wird, so ist doch ihr Äußeres mit ihr eins in der Einheit eines Seins und nicht so außen wie das, was ihr völlig fremd und abgetrennt gegenübersteht[1]. Unter diesem Fremden und Abgetrennten aber gibt es den Unterschied von Dingen, die ein rein äußeres – d.h. räumlich ausgebreitetes – Sein haben, und von solchen, die ein Inneres haben, wie es die Seele selbst ist. Auf der andern Seite mußten wir in der Seele selbst von Äußerem und Innerem sprechen. Wenn sie nach außen gezogen wird, so geht sie doch nicht aus sich selbst heraus, sie ist nur weiter von ihrem Innersten entfernt und damit zugleich der Außenwelt hingegeben. Was von außen herantritt, hat ein gewisses Recht, sie in Anspruch zu nehmen, und es entspricht seinem Gewicht, dem Wert und der Bedeutung, die es in sich und die es für sie hat, eine bestimmte Tiefe der Seele, in der es aufgenommen zu werden verdient. So ist es sachlich angemessen, wenn sie es von daher entgegennimmt. Aber dazu ist nicht erforderlich, daß sie einen tiefer gelegenen Standort preisgibt: weil sie ein Geist ist und ihre Burg ein geistiges Reich, gelten hier ganz andere Gesetze als im äußeren Raum; wenn sie im Tiefsten und Innersten dieses ihres inneren Reiches ist, dann beherrscht sie es ganz und hat die Freiheit, sich an jeden beliebigen Ort darin zu begeben, ohne ihren Ort, den Ort ihrer Ruhe zu verlassen. Die Möglichkeit, sich in sich selbst zu bewegen, beruht auf der Ichförmigkeit der Seele. Das Ich ist das in der Seele, wodurch sie sich selbst besitzt und was sich in ihr als in seinem eigenen Raum bewegt. Der tiefste Punkt ist zugleich der Ort ihrer Freiheit: der Ort, an dem sie ihr ganzes Sein zusammenfassen und darüber entscheiden kann. Freie Entscheidungen von geringerer Tragweite können in gewissem Sinn auch von einem weiter nach außen gelegenen Punkt getroffen werden: aber es sind oberflächliche Entscheidungen: es ist ein Zufall, wenn die Entscheidung sachgemäß ausfällt, denn nur am tiefsten Punkt hat man die Möglichkeit,


  1. Die hl. Mutter nennt ihn die Ringmauern der Burg.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 142. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/142&oldid=- (Version vom 7.1.2019)