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Die Seele im Reich des Geistes und der Geister

Seele ist, sondern schon Antwort auf etwas, was sie in Bewegung gebracht hat. Aber das führt in eine Richtung, die wir hier nicht weiter verfolgen können.

An der Schwelle, wo die aufsteigenden Regungen gespürt werden, beginnt die Scheidung gattungsmäßig kennbarer seelischer Fähigkeiten und die Ausformung faßbarer Gebilde: dahin gehören vom Verstand ausgearbeitete Gedanken mit ihrer vernunftgemäßen Gliederung (das sind innere Worte, für die sich dann auch äußere Worte finden lassen), Gemütsbewegungen und Willensentschlüsse, die als wirkende Kräfte in den Zusammenhang des seelischen Lebens eintreten. Seelisches Leben, das ist nun nicht mehr das Ur-Leben in der Tiefe, sondern etwas, was in innerer Wahrnehmung faßbar ist. Und innere Wahrnehmung ist eine ganz andere Art des Erfassens als jenes erste Spüren dessen, was auf der Tiefe aufsteigt. Ebenso ist dieses Aufsteigen aus der Tiefe unterschieden von dem Auftauchen eines bereits geformten Gebildes, das im Gedächtnis bewahrt wurde und nun wieder lebendig wird.

Von dem, was aufsteigt und spürbar ist, wird keineswegs alles wirklich gespürt. Vieles kommt auf, wird zu innerem und äußerem Wort, wird zu Wunsch und Willen und Tat, „ehe man sich’s versehen hat“. Nur wer ganz gesammelt in seinem Innern lebt, der hält treue Wacht über jene ersten Regungen.

Damit kommen wir zu einem zweiten Grund, warum dem Menschen sein Innerstes verborgen ist. Es wurde gesagt, die Seele sei hier recht eigentlich zu Hause. Aber – so seltsam das klingen mag – sie ist in der Regel nicht zu Hause. Es gibt nur wenige Seelen, die in ihrem Innersten und von ihrem Innersten aus leben; und noch viel weniger, die dauernd darin und von ihm aus leben. Natürlicherweise – d.h. ihrer gefallenen Natur gemäß – halten sich die Menschen in den äußeren Räumen ihrer Seelenburg auf. Was von außen an sie herantritt, zieht sie nach außen, Gott muß schon recht vernehmlich rufen und ziehen, um sie zur „Einkehr bei sich selbst“ zu bewegen[1].



  1. Unsere hl. Mutter Teresia von Jesus hat in ihrem mystischen Hauptwerk Die Seelenburg die Seele einer Burg mit vielen Gemächern, mit 7 Wohnungen verglichen (Seelenburg, I. Wohnung 1. Hauptstück, Neue deutsche Ausgabe der Schriften, Bd. V, München 1938, S. 19 ff.)
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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 141. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/141&oldid=- (Version vom 7.1.2019)