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Die Seele im Reich des Geistes und der Geister

Hilfe nehmen und alles in allem erwägen, so scheint ein Artunterschied vorzuliegen und innerhalb jeder Art noch seine Stufenfolge. Im Geistlichen Gesang z.B. erwähnt der Heilige dieselbe Dreiteilung, ohne von einem bloßen Gradunterschied zwischen gnadenhafter und Liebesgegenwart zu sprechen. Vielmehr betont er dort das wahrnehmbare Fühlen des gegenwärtigen höchsten Gutes in der Liebesvereinigung und seine Wirkung: das brennende Verlangen nach der unverhüllten, seligen Gottesschau[1].

Auch die hl. Mutter Teresia hat sich mit der Frage viel beschäftigt. Sie sagt in der Seelenburg[2], sie sei durch das Gebet der Vereinigung zur Erkenntnis der Glaubenswahrheit gekommen, daß Gott in jedem Ding sei durch Sein Wesen; Seine Gegenwart und Seine Macht. Vorher habe sie nur um das Innewohnen durch die Gnade gewußt. Sie habe dann verschiedene Theologen befragt, um sich Klarheit über ihre Entdeckung zu verschaffen. Ein „Halbgehrter“ wußte auch nur um das Innewohnen durch die Gnade. Aber andere konnten ihr als Glaubenswahrheit bestätigen, was ihr im Erlebnis der Vereinigung aufgeleuchtet war. Vielleicht wird es uns zu größerer sachlicher Klarheit verhelfen, wenn wir versuchen, die beiden augenscheinlich so verschiedenen Darstellungen der Ordenseltern gegeneinander abzuwägen.

Sie stimmen überein in der Glaubenswahrheit, die dem Theologen Johannes geläufig war, während Teresia sie erst entdecken mußte: Gott der Schöpfer ist in jedem Ding gegenwärtig und erhält es im Dasein; Er hat ein jedes vorausgeschaut und kennt es durch und durch mit allen seinen Wandlungen und Schicksalen. Er kann mit jedem, kraft Seiner Allmacht, in jedem Augenblick tun, was Ihm gefällt. Er kann es seiner Eigengesetzlichkeit und dem normalen Lauf des Geschehens überlassen. Er kann auch mit außerordentlichen Maßnahmen eingreifen. In dieser Weise wohnt Gott auch in jeder Menschenseele. Er kennt eine jede von Ewigkeit her, mit allen Geheimnissen ihres Wesens und jedem Wellenschlag ihres Lebens. Sie ist in Seiner Macht; es steht bei Ihm, ob Er sie sich selbst und dem Lauf der Welt überlassen oder mit starker Hand in ihr Geschick eingreifen will. Ein solches Wunder Seiner Allmacht ist die Neugeburt einer Seele durch die heiligmachende Gnade. Johannes und Teresia stimmen wiederum darin überein, daß das gnadenhafte Innewohnen Gottes ein anderes ist als das seinserhaltende Gegenwärtigsein, das allen Geschöpfen gemeinsam ist. Mit „Wesen, Gegenwart


  1. a. a. O. Erklärung zu Str. II, Obras III 245 ff.
  2. 5. Wohnung 1. Hauptstück (a. a. O. S. 91 ff.).
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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 149. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/149&oldid=- (Version vom 7.1.2019)