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Tod und Auferstehung

daß hier die Verstümmelung durch fremde Hände unleugbar ist. Aufstieg und Nacht liegen uns als Bruchstücke vor. In beiden Fällen fehlen die Teile, in denen die Vereinigung ausführlich zur Sprache kommen sollte und die Fragen, die uns jetzt beschäftigen, Klärung finden mußten. Sind diese Teile nie geschrieben worden oder wurden sie in den Abschriften unterdrückt? (Alle vier großen Traktate liegen nur in Abschriften vor, von keinem haben wir die Urschrift; nur eine Abschrift des Geistlichen Gesanges enthält Korrekturen von der Hand des Heiligen.) Und geschah eine solche Unterdrückung nach der Weisung des Verfassers oder hat ein fremder Wille so verfügt? Auf alle diese Fragen haben wir keine Antwort.

In dem Verlangen, zur Klarheit zu kommen, haben wir zu den unbefangenen Beschreibungen unserer heiligen Mutter unsere Zuflucht genommen. Sie geben uns Sicherheit, wo die verschiedenen Formulierungen bei Johannes vom Kreuz Zweifel in uns aufsteigen lassen. Sie sind nicht nur als völlig unverfälschte Tatsachenberichte von unschätzbarem Wert eine Unterlage, um zu eigenem theoretischen Verständnis zu gelangen. Wir haben auch das Recht anzunehmen, daß die beiden Heiligen – bei aller Verschiedenheit des Charakters, der schriftstellerischen Eigenart, auch des Heiligkeitstypus und der Bewertung der außerwesentlichen mystischen Gnaden – in der wesentlichen Auffassung des inneren Lebens eines Sinnes waren. Die Seelenburg und auch die Schriften des hl. Vaters Johannes sind abgefaßt, nachdem beide jahrelang in Avila in vertrautem Gedankenaustausch gelebt hatten. Die heilige Mutter hat daraufhin ihren jungen Mitarbeiter den „Vater ihrer Seele“ genannt[1] und Johannes hat gelegentlich auf ihre Schriften verwiesen, um sich Ausführungen zu ersparen, die man dort finden konnte.[2] Wenn wir also in ihrer Darstellung der verschiedenen Stufen der mystischen Vereinigung etwas finden, was unverkennbar von der Vereinigung durch die Gnade artmäßig verschieden ist, so dürfen wir der Überzeugung sein, daß wir etwas vor uns haben, was durch Johannes vom Kreuz gebilligt worden ist. Wir kommen also durch die Zusammenfassung der Ausführungen beider Ordenseltern zu einer Befestigung der Auffassung, daß die drei genannten Weisen des Innewohnens Gottes nicht nur Gradabstufungen, sondern artmäßig verschieden


  1. Brief an Anna von Jesus, 265. Brief; Neue deutsche Ausgabe der Schriften, B. IV, München 1939, S. 105.
  2. Geistlicher Gesang, Erklärung zu Str. 12 (13) V. 2, Obras III 59 u. 262. (Die Zählung ist in den beiden Fassungen verschieden, weil in B. eine Strophe – Str. 11 – eingefügt ist.)
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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 156. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/156&oldid=- (Version vom 7.1.2019)