Wenn dem Heiligen das Gefühl des Unvermögens gegenüber dem Unsagbaren Schweigen gebietet – wie sollen wir es wagen, seinen Worten eine sachliche Erklärung anzufügen? Wir möchten ihm nur danken, daß er uns einen Blick tun ließ in ein wunderbares Land, ein irdisches Paradies an der Schwelle des himmlischen. Doch wir müssen versuchen das, was er uns hier erschlossen hat, in Verbindung zu bringen mit dem schon Bekannten. Liebe zu den Seelen hat ihm die Lippen geöffnet: er will ihnen Mut machen zum harten Kreuzweg, dem steilen und schmalen Weg, der auf so lichter, seliger Höhe endet.
Damit ist kurz die innere Zusammengehörigkeit zwischen der Lebendigen Liebesflamme und den beiden Schriften ausgesprochen, die den Kreuzweg selbst zum Gegenstand hatten: Aufstieg und Nacht. Eine eigentliche Gegenüberstellung des gedanklichen Gehaltes wäre nur möglich, wenn wir die verlorenen oder nie geschriebenen Teile der beiden älteren Schriften vor uns hätten. Immerhin darf man wohl soviel sagen: Nach dem, was jene beiden Werke an manchen Stelle vorgreifend von der Vereinigung andeuteten, hat man den Eindruck, daß eine neue Erlebnisgrundlage vorliegt. Die grundsätzliche Einstellung ist dieselbe geblieben: es gibt keinen andern Weg zur Vereinigung als den durch Kreuz und Nacht, den Tod des alten Menschen. Es ist auch nicht nachträglich durchzustreichen, was wiederholt betont wurde: daß der Dichter und Ausleger des Nacht-Gesangs bereits zur Vereinigung gelangt war. Aber die Vereinigung schien sich in der Nacht, ja am Kreuz zu vollziehen. Wie weit sich schon in diesem Leben der Himmel öffnen kann, das scheint der Heilige erst später beseligt erfahren zu haben.
Auch das äußere Geschick der letzten Schrift war ein glücklicheres als das der früheren. Damit ist nicht nur gemeint, daß sie zum Abschluß kam und als Ganzes erhalten blieb. Wenn die andern tatsächlich unvollendet blieben – wir haben diese Frage ja immer offen gelassen –, so lag es vielleicht daran, daß die Erklärung dort nachträglich und nicht nur in einem zeitlichen, sondern auch in einem seelischen Abstand von dem Gesange geschrieben wurde. Aufstieg und Nacht sind viel stärker lehrhaft als die Auslegung der Liebesflamme. Der Denker steht vor dem Gedicht, dem Niederschlag seiner ursprünglichen Erfahrung, fast wie vor etwas Fremdem; jedenfalls als vor etwas sachlich Gegebenem. Und der Eifer,
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 194. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/194&oldid=- (Version vom 11.8.2021)