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Der Geistliche Gesang und sein Verhältnis zu den andern Schriften
          38 (39).           38 (39).
El aspirar del aire, Des Lufthauchs lindes Leben,
El canto de la dulce filomena, Wenn süßer Nachtigallen Sang man höret,
El soto y su donaire, Der Hain mit seinen Gaben
En la noche serena In heit’rer Nacht gewähret,
Con llama que COnsume y no da pena. Die Flamme, welche ohne Schmerz verzehret.
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          39 (40).           39 (40).
Que nadie lo miraba, Nie durft’s ein Wesen sehen,
Aminadab tampoco parecía, Aminadab läßt auch sich nicht mehr blicken,
Y le cerco sosegaba, Belagerungsheer mußt gehen,
Y la caballería Die Reiter talwärts rücken,
A vista de las aguas decendía. Dort unten die Gewässer zu erblicken.


Dieser Gesang aus dem Kerker ist von überwältigendem Reich­tum der Bilder und Gedanken. Er unterscheidet sich dadurch we­sentlich von den Strophen der Dunklen Nacht und der Liebesflam­me. Dort hatten wir jedesmal ein einfaches Bild, wovon das Ganze beherrscht wurde: die Flucht in der Nacht – die Feuersglut mit der emporschlagenden Flamme. Hier ist wohl auch ein einheit­gebendes Band vorhanden – wir kommen noch darauf zurück –, aber davon umfaßt, ein beständiger Wechsel der Bilder. Dort Ein­falt und Stille, hier die Seele und die ganze Schöpfung in Be­wegung. Das ist kein bloße Verschiedenheit des dichterischen Stils: die Stilverschiedenheit ist einem tiefgehenden Unterschied der Er­lebensgrundlage entsprungen. Nacht und Liebesflamme geben gleich­sam einen Querschnitt durch das mystische Leben in einem be­stimmten Augenblick des Werdegangs, und zwar beide in einem Zeit­punkt, in dem die Seele bereits alles Geschaffene hinter sich gelas­sen hat und nur noch mit Gott beschäftigt ist. Ihr Verhältnis zu den Dingen der Welt wird bloß rückblickend behandelt. Der Geist­liche Gesang gibt den ganzen mystischen Werdegang wieder – nicht nur in der Erläuterung, sondern in den Strophen selbst – und ist von einer Seele geschrieben, die von allen Reizen der sichtbaren Schöpfung zu tiefst ergriffen ist. Auf den Gefangenen in der dunk­len Zelle, der Dichter und bildender Künstler ist und empfänglich für den Zauber der Musik, dringt die Welt draußen, die Welt von der er abgeschnitten ist, mit wunderbaren Bildern und bestrickenden Klängen ein. Freilich bleibt er nicht bei den Bildern

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 205. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/205&oldid=- (Version vom 7.1.2019)