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Der Seele Brautgesang

Vollkommenheit der Seele ein abgeschlossenes Ganzes: sie umschließt eine Fülle leuchtender Tugenden fest und in schöner Ordnung. Während die Seele diesen Strauß durch Übung der Tugenden win­det, soll kein Störenfried sich auf dem Hügel sehen lassen, d.h. in den Vermögen der Seele sollen keinerlei Einzelerkenntnisse oder Erinnerungen auftreten, damit nichts sie von ihrem liebenden Ver­weilen bei Gott ablenke.

Aber es gibt noch eine andere Trübung ihres Glückes. In der Zeit der Verlobung ist der Geliebte noch nicht dauernd mit ihr vereint. Und da ihre Liebe sehr groß und innig ist, bereitet es ihr große Qual, wenn Er sich zurückzieht. Darum fürchtet sie die Trocken­heit wie den kalten Nordwind, der alle Blüten tötet. Sie nimmt zum Gebet und den geistlichen Übungen ihre Zuflucht, um über die Trockenheit Herr zu werden. Aber auf der hohen Stufe des geistli­chen Lebens, die sie schon erreicht hat, sind alle Mitteilungen des geistlichen Lebens so innerlich, daß sie durch keine Betätigung der eigenen Kräfte erlangt werden können. Darum ruft sie den feuch­ten und warmen Südwind zu Hilfe, in dem die Blumen sich er­schließen und ihren Duft aushauchen: den Heiligen Geist, „der in ihr die Liebe erweckt“. Wenn Er sie erfaßt, „entflammt Er sie vollends, erquickt und belebt sie und regt den Willen und die Be­gierden .... zur Liebe Gottes an....“ Sie bittet Ihn, durch ihren Garten zu wehen, nicht im Garten. „Es ist nämlich ein großer Un­terschied zwischen dem Wehen Gottes in der Seele und dem Wehen durch die Seele. Das Wehen in der Seele bedeutet das Eingießen der Gnade, der Gaben und Tugenden, das Wehen durch die Seele aber ist eine Berührung und Tätigkeit Gottes, wodurch die schon verlie­henen Tugenden und Vollkommenheiten erneuert und in Bewegung gebracht werden, sodaß sie einen wunderbar süßen Duft verbrei­ten. Es ist geradeso, wie wenn man wohlriechende Dinge rüttelt“; sie strömen dann „eine Fülle von Wohlgeruch aus, wie es vorher nie geschah....“ So hat auch die Seele nicht immer das wirkliche Gefühl und den Genuß ihrer Tugenden. Sie gleichen vielmehr in diesem Leben den Blumen, die noch in der Knospe sind, oder zuge­deckten Gewürzen. Manchmal aber, wenn der göttliche Geist durch den Seelengarten weht, öffnet Er alle Knospen der Tugenden und deckt die Würze der Gaben, Vollkommenheiten und Reichtümer der Seele auf. „So enthüllt Er durch Offenbarung ihrer inneren Schätze und Reichtümer die ganze Schönheit der Seele“. Diese Wohlgerüchte der Tugendblüten finden sich zuweilen in der Seele in solchem Übermaß, daß sie ganz mit Wonne umkleidet und in un­schätzbarer Herrlichkeit eingetaucht ist. Es pflegt davon auch etwas

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 222. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/222&oldid=- (Version vom 6.1.2019)