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Der Seele Brautgesang

der unendlichen Reichtümer Gottes der Seele unzugänglich sind, wenn sie nicht die Leiden in ihrer ganzen Fülle auf sich nimmt; wenn sie sich nicht danach sehnt und ihren Trost darin findet? Wann wird man sich davon überzeugen, daß die Seele, die ein wahres Verlangen nach göttlicher Weisheit trägt, zuerst damit beginnen muß, in die Tiefen der Leiden des Kreuzes einzudingen....? Denn das Kreuz ist die Pforte zum Eintritt in die Reichtümer der Weisheit Gottes, und die ist eng....“[1] Sie führt in die tiefen Felsenhöhlen, d.h. in „die erhabenen, tiefen und unergründlichen Geheimnisse der göttlichen Weisheit, die in der Person Christi verborgen sind kraft der hypostatischen Vereinigung .... der menschlichen Natur mit dem Wort Gottes oder der dadurch bedingten Vereinigung der Menschheit mit Gott.... Jedes der Geheimnisse, die in Christus vereint sind, .... ist für sich ein Abgrund der Weisheit und schließt zahllose verborgene Ratschlüsse der Vorherbestimmung und des Vorherwissens bezüglich der Menschenkinder in sich..... Soviel Geheimnisse und Wunder auch die hl. Lehrer enthüllt haben, und so tief die Seelen in diesem Leben darin eingedrungen sind, sie haben doch in Wirklichkeit fast nichts erklärt und erkannt; Christus ist und bleibt ein unerforschlicher Abgrund....“, gefüllt mit „allen Schätzen der Weisheit und Wissenschaft“ (Col. 2,3). Zu diesen Schätzen kann die Seele nur gelangen, wenn sie „zuvor durch äußere und innere Leidensglut nach den Plänen der göttlichen Weisheit geläutert wurde. Selbst eine beschränkte Erkenntnis dieser Geheimnisse kann man sich in diesem Leben nur erwerben durch viele Leiden, durch zahllose auf Geist und Sinne einwirkende Gnaden Gottes und durch bewährte Übung im geistlichen Leben. Denn all diese Gnaden sind nur von untergeordneter Natur gegenüber der Weisheit der Geheimnisse Christi, sie sind nur Zubereitungen, um zu ihnen zu gelangen“[2]. Der Genuß dieser göttlichen Erkenntnisse ist der junge Wein, den die Liebenden gemeinsam kosten.

„Über alles aber ersehnt die Seele die Gleichförmigkeit mit der göttlichen Liebe. Sie möchte Gott so lieben, wie sie von Ihm geliebt wird. Dahin kann sie jedoch in diesem Leben auch auf der höchsten Stufe nicht gelangen, es bedarf dazu der Umgestaltung in der ewigen Herrlichkeit. Dort wird sie Gott lieben mit dem Willen und der Kraft Gottes selbst, weil sie vereinigt ist mit der Kraft der göttlichen Liebe oder mit der Kraft des Heiligen Geistes, in den sich die Seele in der ewigen Glorie umgestaltet sieht. Der Heilige Geist wird der


  1. Erklärung zu Str. 36, Obras III 398 ff.
  2. Erklärung zu Str. 37 V. 3, Obras III 406.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 236. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/236&oldid=- (Version vom 6.1.2019)