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Brautsymbol und Kreuz

des sündigen Menschen in Aufruhr ist gegen den Geist, darum ist alles Leben im Fleisch Kampf und Leiden: für den Menschensohn mehr als für jeden andern Menschen, für die andern um so mehr, je enger sie mit Ihm verbunden sind. Jesus Christus wirbt um die Seele, indem Er Sein Leben einsetzt für das ihre im Kampf gegen Seine und ihre Feinde. Er verjagt den Satan und alle bösen Geister, wo Er ihnen persönlich begegnet. Er entreißt die Seelen ihrer Tyrannei. Schonungslos entblößt Er die menschliche Bosheit, wo sie Ihm verblendet, verhüllt und verstockt entgegentritt. Allen, die ihre eigene Sündhaftigkeit erkennen, reumütig bekennen und sehnsüchtig nach Befreiung davon verlangen, reicht Er die Hand, aber Er verlangt von ihnen bedingungslose Nachfolge und Absage an alles, was in ihnen Seinem Geist widersteht. Durch all das reizt Er die Wut der Hölle und den Haß der menschlichen Bosheit und Schwäche gegen sich auf, bis sie losbrechen und Ihm den Tod am Kreuz bereiten. Hier zahlt Er in den äußersten Qualen des Leibes und der Seele, vor allem in der Nacht der Gottverlassenheit, den Lösepreis für die angesammelte Sündenschuld aller Zeiten an die göttliche Gerechtigkeit und öffnet die Schleusen der väterlichen Barmherzigkeit für alle, die den Mut haben, das Kreuz und den Gekreuzigten zu umarmen. In sie ergießt sich Sein göttliches Licht und Leben, aber weil es unaufhaltsam alles vernichtet, was Ihm im Wege steht, darum erfahren sie es zunächst als Nacht und Tod. Das ist die dunkle Nacht der Beschauung, der Kreuzestod des alten Menschen. Die Nacht ist um so dunkler, der Tod um so qualvoller, je mächtiger diese göttliche Liebeswerbung die Seele ergreift und je rückhaltloser die Seele sich ihr überläßt. Das fortschreitende Zusammenbrechen der Natur gibt dem übernatürlichen Licht und dem göttlichen Leben mehr und mehr Raum. Es bemächtigt sich der natürlichen Kräfte und verwandelt sie in vergöttlichte und vergeistigte. So vollzieht sich eine neue Menschwerdung Christi im Christen, die mit einer Auferstehung vom Kreuzestode gleichbedeutend ist. Der neue Mensch trägt die Wundmale Christi an seinem Leibe: die Erinnerung an das Sündenelend, aus dem er zu seligem Leben erweckt ist, und an den Preis, der dafür gezahlt werden mußte. Und es bleibt ihm der Schmerz der Sehnsucht nach der Fülle des Lebens, bis er durch das Tor des wirklichen leiblichen Todes eingehen darf in das schattenlose Licht.

So ist die bräutliche Vereinigung der Seele mit Gott das Ziel, für das sie geschaffen ist, erkauft durch das Kreuz, vollzogen am Kreuz und für alle Ewigkeit mit dem Kreuz besiegelt.


Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 241. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/241&oldid=- (Version vom 6.1.2019)