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Kreuzesnachfolge

gewalttätige Seelenführer, wie sie aus der Lebendigen Liebesflamme angeführt werden und auch noch an anderen Stellen zu finden sind, daß Johannes von Natur aus keine Taube ohne Galle war. Seine Schilderungen gewisser Frömmigkeitstypen in den letzten Kapiteln des Aufstiegs sind von einer Ironie, die im persönlichen Verkehr sehr verletzend hätte sein können. Wenn er weder als Oberer in Umgang mit den Untergebenen noch in den Stunden der Rekreation davon Gebrauch machte, so beweist dies, daß er über seine Natur völlig Herr geworden war. Er hat getreu seiner Lehre gelebt. Wenn wir seine Aussprüche über die Tugenden und Gaben mit den Aussagen über sein Verhalten vergleichen, so finden wir die vollkommenste Übereinstimmung.

Er verlangte einen Glauben, der sich rein an die Lehre Christi und Seiner Kirche hält und keine Stütze in außerordentlichen Offenbarungen sucht. Während des Kapitels von Lissabon gingen viele, auch ernsthafte Patres eine Nonne besuchen, von deren Wundmalen viel Aufsehens gemacht wurde. Sie bewahrten kleine Stückchen Tuch mit Blut aus diesen Wunden wie Reliquien. Johannes gab nichts auf diese Dinge und ging auch nicht hin. Als er später in Granada während der Rekreation gefragt wurde, ob er die Stigmatisierte gesehen habe, antwortete er: „Ich habe sie nicht gesehen und wollte sie nicht sehen, denn ich würde mich sehr betrüben über meinen Glauben, wenn er durch das Sehen solcher Dinge auch nur ein wenig wachsen sollte....“[1] Sein Glaube gewann „aus den Wundmalen Jesu Christi mehr als aus allen geschaffenen Dingen“ und bedurfte keiner anderen Wundmale[2].

Johannes wollte eine Hoffnung, die „unablässig auf Gott gerichtet ist, ohne ihre Augen einer andern Sache zuzuwenden“, und war überzeugt, daß eine solche Seele „erreicht, soviel sie hofft“[3]. P. Juan Evangelista bezeugt, in den acht oder neun Jahren, die er mit dem Heiligen zusammenlebte, habe er immer gesehen, daß er ganz in der Hoffnung lebte und davon getragen wurde. Besonders konnte er sich als Prokurator in Granada davon überzeugen, während Johannes Prior war. Eines Tages fehlte ihm das Nötige für den Konvent und er bat um Erlaubnis, ausgehen zu dürfen, um es zu beschaffen. Er wurde ermahnt, er solle auf Gott vertrauen, es werde ihnen nichts mangeln. Nach einiger Zeit kehrte er zurück und drängte, es sei schon spät und er habe Kranke, für die er sorgen müsse. Der Heilige schickte ihn in seine Zelle, um von Gott zu erbitten, was er brauchte.


  1. Vgl. die Aussage des P. Martin vom hl. Joseph, Obras IV 377 f.
  2. Aussage des P. Juan Evangelista, a.a.O. S. 390.
  3. 119. Ausspruch, E. Cr. III 29.
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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 263. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/263&oldid=- (Version vom 6.1.2019)