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Kreuzesnachfolge

Er gehorchte wieder, eilte aber nach einer Weile zum drittenmal ins Priorat und erklärte: „Vater, das heißt Gott versuchen, geben Euer Hochwürden mir Erlaubnis zu gehen...., es ist schon sehr spät“. Diesmal erhielt er die Erlaubnis, aber in der Form: „Geh, und du sollst sehen, wie Gott deinen Mangel an Glauben und Hoffnung beschämen wird“. Tatsächlich wurde das Nötige ins Haus gebracht, als er sich gerade auf den Weg machen wollte. Ähnliches hat er noch in anderen Fällen erfahren[1].

Über die Liebe zu sprechen, ist kaum noch nötig: die ganze Lehre des Heiligen ist ja eine Lehre der Liebe, eine Anweisung, wie die Seele dahin gelangen kann, umgeformt zu werden in Gott, der die Liebe ist. Alles kommt auf die Liebe an, da wir am Ende nach der Liebe gerichtet werden. Und sein ganzes Leben ist ein Leben der Liebe: innigste Verbundenheit mit den nächsten Angehörigen in der Liebe zu Gott; selbstvergessene, hingebende Fürsorge für die Kranken; väterliche Güte gegenüber den Untergebenen; unermüdliche Geduld mit Beichtkindern jeder Art; Ehrfurcht gegenüber den Seelen; brennendes Verlangen, sie freizumachen für Gott; feinstes Unterscheidungsvermögen für die Mannigfaltigkeit der göttlichen Führungen, darum zarteste Anpassung an die verschiedenen Anregungen: er führt die Novizen hinaus ins Freie, läßt jeden nach Belieben einen einsamen Platz aussuchen, um da nach Gottes Eingebung zu weinen, zu singen oder zu beten[2]. Auch für seine Feinde hat er kein scharfes Wort. Was sie ihm antun, ist ihm nur Gottes Wirken. Es wird davon noch die Rede sein. All diese verschiedenen Formen der Nächstenliebe aber haben ihre Wurzel in der Gottesliebe und in der Liebe zum Gekreuzigten. Wir haben es ja immer wieder gesehen, daß ihm Liebe wesentlich „Übung vollkommener Entsagung und Leiden für den Geliebten“ ist[3]; wie er das im Leben betätigt hat, ist schon vielfach gezeigt worden und wird noch im Folgenden deutlich werden.

Die Übereinstimmung von Lehre und Leben soll nur noch an einem bedeutsamen Punkt gezeigt werden: Johannes hat in seinen Schriften immer wieder betont, daß man nicht nur auf alle natürlichen Erkenntnisse und Genüsse verzichten müsse, sondern auch auf alle übernatürlichen Gunstbezeugungen Gottes – Visionen, Offenbarungen, Tröstungen u.dgl. –, um über alles Faßbare hinaus im dunklen Glauben dem unfaßlichen Gott selbst entgegenzugehen. Die Zeugenaussagen aus den verschiedensten Zeiten seines Lebens


  1. Aussage des P. Juan Evangelista, Obras IV 390 f.
  2. P. Bruno, Vie d’Amour, S. 218 ff.
  3. 123. Denkspruch, E. Cr. III 30.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 264. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/264&oldid=- (Version vom 6.1.2019)