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Walther Kabel: „Ehrliche Leute!“ (Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Band 12)

Namen zu nennen, unter diesem Titel eine Plauderei, die das bekannte Wort „Gelegenheit macht Diebe“ nur allzu berechtigt erscheinen läßt. Er schreibt: „Mein Prüfstein der Ehrlichkeit war ein schöngeschliffener, mittelgroßer Brillant, den ich mit einem vorzüglichen Klebstoff fest auf die Glasplatte des Verkaufstisches aufgeleimt hatte, und zwar so, daß er bequem zu erreichen war. Es sah genau so aus, als ob der Brillant versehentlich liegen geblieben sei, halb verdeckt durch ein schwarzes Samttuch, wie wir es zum Ausbreiten der Waren benützen. Ich habe dann durch diesen ,liegen gebliebenen Stein‘ in zwei Wochen mehr Menschenkenntnis gesammelt, als mir dies bisher in den ganzen fünfundzwanzig Jahren meiner geschäftlichen Tätigkeit möglich war. Zu meinen Kunden zählen Damen und Herren aller Berufsstände. Sorgfältig notierte ich mir nun in den vierzehn Tagen, die ich den Stein an seinem Platze ließ, das Verhalten jedes einzelnen Käufers. Von den rund dreihundert Besuchern meines Geschäftes haben dreiundfünfzig von dem Brillanten keine Notiz genommen, ihn vielleicht gar nicht bemerkt. Siebenundsechzig waren so liebenswürdig, mich auf das ‚liegen gebliebene‘ Kleinod aufmerksam zu machen, wofür ich mich dann regelmäßig mit einer aus aufrichtigem Herzen kommenden Freude bedankte. Die übrigen Käufer dagegen haben ohne Ausnahme, häufig in der raffiniertesten Weise, versucht, den Brillanten heimlich mitgehen zu heißen, um mich milde auszudrücken. Unter diesen Leuten waren Damen in der überwiegenden Mehrzahl vertreten, viele mit hochgeachteten Namen, schwerreich und unnahbar wie Königinnen. Vor meinem Prüfstein sanken all die guten Grundsätze, die ich doch als vorhanden annehmen mußte, wie ein Kartenhaus zusammen. Eine langjährige Kundin, die mich sonst kaum mit leichtem Neigen des schön frisierten Hauptes zu begrüßen pflegte, legte ihr Täschchen plötzlich auf den Brillanten und wurde dann so gesprächig, wie sie es nie zuvor gewesen – freilich nur zu dem Zweck, um meine Aufmerksamkeit abzulenken. Die feinbehandschuhte Rechte, die nachher scheinbar nach dem Täschchen griff, bemühte sich jedoch vergeblich, meinen ‚Prüfstein‘ von der Platte zu entfernen. Diesen Trick mit dem

Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: „Ehrliche Leute!“ (Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Band 12). Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1914, Seite 222. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ehrliche_Leute!.pdf/3&oldid=- (Version vom 31.7.2018)