Seite:Ferdinand Wilhelm Weber - Kurzgefaßte Einleitung in die heiligen Schriften (11. Auflage).pdf/384

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

in der Zeit, als dieser in Ephesus das Evangelium verkündete. Als daher die Gemeinde in Gefahren geriet, wandte sich Epaphras an den Apostel, und dieser auf Grund seines Verhältnisses zu Epaphras und seines allgemeinen Berufes für die heidenchristlichen Gemeinden nahm sich der Not der kolossischen Gemeinde treulich an. Welcher Art nun diese Gefahr war, läßt sich aus den Stellen 2, 8 ff. und 16 ff. einigermaßen erschließen. Danach hat in Kolossä eine Religionsphilosophie Eingang gefunden, die man wohl als einen jüdisch gefärbten Gnostizismus bezeichnen darf. In theoretischer Hinsicht versprach diese unter dem Schein einer höheren Weisheit auftretende Irrlehre, wie es scheint, allerlei Aufschlüsse über die höhere Geisterwelt und ihr Verhältnis zur Menschenwelt sowie über die Befreiung von ihren Einflüssen; in praktischer Hinsicht aber legte sie – wohl von der Grundlage dualistischer Anschauungen aus – die christliche Sittlichkeit in eine strenge an das mosaische Gesetz sich anschließende Askese, die ihr wohl das Mittel war zur vollen Befreiung des Christen von der Herrschaft der in der gegenwärtigen Welt wirksamen Geistesmächte. Zu einer volleren Erkenntnis und zu einem vollkommeneren Lebensstand behauptete sie zu führen. Eine doppelte Gefährdung des Christentums, sowohl nach der religiösen wie nach der sittlichen Seite, drohte also in der Gemeinde zu Kolossä: die Vollkommenheit der christlichen Offenbarung, die Vollgenugsamkeit der durch Christum geschehenen Erlösung, die Völligkeit des Christenstandes der kolossischen Christen wurde in Frage gestellt, und andrerseits wurde die christliche Sittlichkeit in ihrem Wesen alteriert, weil zu einer des Gebrauchs der Dinge dieser Welt sich möglichst enthaltenden Askese veräußerlicht. (Letztere, nicht etwa ein Engelkultus, dürfte unter dem Ausdruck „Geistlichkeit der Engel“ 2, 18 zu verstehen sein.) Die Verschiedenheit dieser Irrlehre von jener, mit welcher jüdische Gesetzeseiferer die galatischen Gemeinden bedrängten, liegt auf der Hand; die Berührungspunkte zwischen beiden sind nur äußerlicher Art. In der Zeit, in welcher uns ausführlichere Nachrichten über die Lehrentwickelungen und Gemeinschaftsbildungen des Gnostizismus vorliegen (2. Jahrhundert), hatte die Kirche denselben bereits aus ihrer Mitte ausgeschieden; es ist aber eine naheliegende Annahme, daß diesem Stadium ein anderes vorherging, in welchem diese Geistesrichtung