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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit

als bei uns im Orelschen. Hier hört man von keiner Hungersnot und bei uns – ach du lieber Gott – in jedem Jahre hungert unser Bauer in einem anderen Gouvernement.“

Wieder überhörte der Pope diesen Einwurf. „Ich hatte gestern einen sonderbaren Traum,“ fuhr er fort. „Unsere heilige Kirche stand vor dem Himmelstor und ihre Kuppeln strahlten von Silber und Gold, – – rings um sie her standen diese lutheranischen und polnischen Kirchen, Synagogen, Moscheen und Tempel, und alle die anderen beugten sich nieder vor unserer rechtgläubigen Kathedrale, und ihre Kuppeln mit ihren lutheranischen Hähnen und mohamedanischen Halbmonden berührten den Staub. Und eine große Stimme sprach: Nur durch die rechtgläubige Kuppelkirche führt der Weg zu Mir.“

Vater Nikiphor hatte sich hoch aufgerichtet. Seine Augen glühten fanatisch, die Pferdedecke war von seiner Schulter geglitten. Beschwörend hob er den Arm.

Ein eisiger Schauer kroch über den Rücken des kleinen Schullehrers. Fasziniert hing sein Blick an dem Priester. „Ich glaube ja an nichts,“ wiederholte er sich im Innern, „an nichts außer den Atomen.“ Aber während seine Lippen diese Worte flüsternd formten, fühlte er, daß er sie nur mechanisch vor sich hinplapperte – ich glaube ... ich glaube an die Kraft dieses starken und doch beschränkten Mannes – fuhr es ihm wie ein Blitz durch den Kopf. „Kommen Sie, Vater Nikiphor,“ sagte er endlich mit stockender Stimme – „Sie werden ganz naß.“

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Frances Külpe: Rote Tage : baltische Novellen aus der Revolutionszeit. S. Schottländers Schlesische Verlagsanstalt, Berlin 1910, Seite 119. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:FrancesKuelpeRoteTage.pdf/117&oldid=- (Version vom 1.8.2018)