Wir befinden uns in einem Zeitalter, in dem die Naturwissenschaften ungeheure Fortschritte gemacht haben. Wenn man das Volksleben aber näher betrachtet, dann kommt man zu der Erkenntnis, daß wir noch immer stark im Mittelalter stecken. Der Aberglaube ist noch in einem Maße in weiten Volkskreisen verbreitet, wie man es nicht für möglich halten sollte. In der deutschen Reichshauptstadt, in der „Metropole der Intelligenz“ herrscht selbst in gebildeten Kreisen ein Aberglaube, der lebhaft an das Mittelalter erinnert. In fast allen größeren Gerichtsverhandlungen spielen „kluge Frauen“, die aus dem Eiweiß, dem Kaffeegrund, aus Spielkarten, Bilderkarten, Spiritusflammen und aus den Handlinien die Zukunft enthüllen, eine Rolle. Es gibt in Berlin eine Anzahl Kartenlegerinnen, die eine so große Kundschaft, selbst aus den besten Gesellschaftskreisen, haben, daß, wenn man überhaupt empfangen werden will, man sich am Tage vorher telephonisch oder schriftlich anmelden muß. In den elegantesten Equipagen und Automobilen kommen die feinsten Damen, zum Teil auch Herren bei diesen „Sybillen“ vorgefahren, um sich gegen Bezahlung die Zukunft enthüllen zu lassen. Und nicht minder ist der Spiritismus verbreitet. Vor etwa 20 Jahren machte sich im Dorfe Resau bei Werder, Kreis Potsdam ein siebzehnjähriger Bauernbursche den Scherz, in der Abenddämmerung mit Kartoffeln, Bratpfannen, Tellern, Gläsern usw. zu werfen. Da der junge Mann diesen Scherz allabendlich wiederholte und die Wurfgeschosse in einer Weise geflogen kamen, daß eine Erklärung der Ursache nicht
Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 1. Hermann Barsdorf, Berlin 1910, Seite 208. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_1_(1910).djvu/212&oldid=- (Version vom 31.7.2018)